Tanz auf Glas
Medikamente, die ich nur nahm, wenn ich sie brauchte. Eines davon war gegen Angstzustände, und ich öffnete die kleine Flasche und kippte zwei orangerote Pillen in meine Handfläche. Doch ich starrte die kleinen Lorazepam-Tabletten so lange an, bis sie auf meiner Handfläche verschwammen. Dann ließ ich sie wieder in die Flasche gleiten. Der gesunde Mann in mir, der für eine Weile fort gewesen war, war heute Nacht wieder bei mir. Ich hörte ihn klar und deutlich sagen: Wenn du anfängst, Tabletten zu schlucken, um über Lucys Tod hinwegzukommen, wirst du nie wieder damit aufhören.
Stattdessen duschte ich. Unter dem heißen Wasserstrahl beschloss ich, nicht eher aus der Dusche zu steigen, als ich mich ausgeweint hatte. Aber nach fast einer halben Stunde kam kein heißes Wasser mehr. Ich rieb mir mit den Händen das Gesicht. Mein Kopf dröhnte. Ich entdeckte mich im Spiegel, wie ich tropfend und bibbernd dastand, und vor Mitleid mit dem Kerl, den ich sah, schnürte es mir das Herz zusammen. Er wirkte hoffnungslos zerstört.
Ich wickelte mir ein Handtuch um die Taille. Dann atmete ich tief ein und langsam wieder aus. Ich konnte mich rasieren, das sollte ich sogar tun, aber meine Hände zitterten noch zu sehr. Wieder rieb ich mir das Gesicht, strich mir grob das Haar zurück, bohrte mir die Fingerknöchel in die geschlossenen Augen, holte noch einmal tief Luft und fand, dass es schon besser ging. Eine Weile später stand ich im Jogginganzug vor meinem frisch gewaschenen und perfekt gemachten Bett. Ich war erschöpft und hatte Kopfschmerzen, aber ich war einfach noch nicht stark genug, um darin zu schlafen.
Der Radiowecker auf der Kommode zeigte 22:58 an. War kurz vor elf zu spät, um bei Ron und Lily anzurufen und mich nach Abby zu erkundigen? Wahrscheinlich. Ich nahm mein Kopfkissen vom Bett und ging den Flur entlang zu Abbys Zimmer. Auch hier spähte ich erst zögerlich in den dunklen, kleinen Raum für ein Baby, das nicht hier war. Statt die Deckenbeleuchtung einzuschalten, knipste ich die Lampe auf dem Tischchen an. Sie leuchtete schwach und weich – ein Flüstern von Licht, genau richtig, dass man nach einem schlafenden Baby sehen konnte, ohne es zu wecken. Das Zimmer verschlug mir erneut den Atem. Ich ging zu dem riesigen Schaukelstuhl, mit dem Lucy mich hatte überraschen wollen. Er war neu lackiert worden, so dass er zu dem Kinderbettchen passte, und ich strich mit einer Hand darüber. Lucy. Ich setzte mich hinein und ließ ihn meinen vor Kummer schmerzenden Körper wiegen. Lucy hatte recht, er war genau richtig für mich. Ich blickte mich um. Sie hätte dieses Zimmer geliebt. Ich konnte mir ihre Reaktion ausmalen, wenn Oscar sie damit überrascht hätte. Sie hätte gekichert vor Freude und jeden abgeküsst, der in der Nähe war. Es war ein kleines Paradies. Der perfekte Raum für ein kleines Mädchen, das zwei Straßen weiter wohnte.
Viertel nach elf. Lily gab ihr wahrscheinlich gerade das Fläschchen.
Ich schloss die Augen, ließ den Kopf in den Nacken sinken und befahl ihm, nicht mehr so weh zu tun. Ich bekam eigentlich nie Kopfschmerzen, es sei denn, mit meiner Medikation stimmte etwas nicht, und laut der Laborwerte von vorgestern war alles in Ordnung. Ich musste mich nur beruhigen und endlich schlafen gehen. Hier drin würde ich vielleicht sogar leichter einschlafen als in meinem eigenen Schlafzimmer, aber letzten Endes entschied ich mich für das Sofa am Kamin. Ich wollte die Weihnachtsbaumbeleuchtung anlassen und vielleicht ein bisschen fernsehen, um mich abzulenken.
Ich holte mir gerade eine Wolldecke aus dem Wandschrank im Flur, als ich glaubte, ein Klopfen an der Haustür zu hören. Zunächst tat ich das als Einbildung ab, weil ich mir so sehr ein paar Geräusche in meinem leeren Haus wünschte. Doch dann hörte ich es wieder. Ich eilte die Treppe hinunter, um nachzusehen, wer sich offenbar um mich sorgte, und öffnete die Tür. Da stand Lily in ihrem langen Mantel und einem roten Wollhut. Meine erste Reaktion war Schrecken, und ich brachte nur mühsam hervor: »Was ist passiert, Lil? Ist etwas mit Abby?«
Lily schüttelte den Kopf. Sie hatte die Babyschale in einer Hand und die riesige Tasche in der anderen.
»Was ist denn los, Lil?«
»Darf ich reinkommen?«
»Ja, natürlich. Bitte entschuldige.«
Sie ging an mir vorbei, ließ die Tasche zu Boden sinken und ging zum Sofa. Sie stellte die Babyschale darauf ab und löste die Gurte. Ich beobachtete sie, und meine Angst wuchs.
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