Tanz auf Glas
lachte, als ich ihm seine eigenen Worte zurückspielte. Ich lachte auch, und ich hatte gar nicht gemerkt, wie dringend ich ein Lachen brauchte. Es fühlte sich nach einem Tag entsetzlicher Sorge um Priscilla so köstlich und berauschend an, dass es mir den Atem verschlug.
Mickey beugte sich vor. »Tja, zumindest weißt du jetzt, warum ich dich nicht angerufen habe.«
»Du hättest es aber tun sollen.«
Er musterte mich über den Tisch hinweg und lächelte. »Ich erinnere mich haargenau an diesen Abend. Ich konnte es gar nicht fassen, dass du mich geküsst hast. Und dass du mir deine Telefonnummer gegeben hast.«
»Warum nicht? Ich fand dich sehr nett.«
Mickey Chandler schüttelte den Kopf, auf einmal wieder ernst. »Du fandest
ihn
nett.«
»Ich fand
dich
nett. Und ich mag dich immer noch.«
Er starrte mich forschend an, und ich konnte nur daran denken, dass mir in meinem ganzen Leben noch niemand wie Mickey Chandler begegnet war. Er war echt, mit ernsthaften Fehlern. Keine vorgetäuschte Perfektion. Das Päckchen war beschädigt und aufgerissen und lag hier vor mir, und ich fand das alles unglaublich erfrischend, wenngleich auch ein wenig beängstigend.
Ich wandte als Erste den Blick ab und schaute auf die Wanduhr. »Ich muss jetzt wirklich zurück zu meiner Schwester«, sagte ich und schob ihm den Teller Pommes frites hin. »Sie dreht durch, wenn sie aufwacht und ich nicht da bin.« Ich stand auf und schenkte ihm mein aufrichtigstes, herzlichstes Lächeln. »Aber eines wollen wir doch festhalten, Mickey Chandler,
du
hast
mich
geküsst.« Auf einmal wollte ich diesen Augenblick unbedingt noch einmal erleben, trotz all dessen, was ich heute Nacht erfahren hatte.
Mickey grinste.
»Du hast mir keine Angst gemacht«, sagte ich. »Das sollst du wissen. Ich erkenne ganz genau, dass du trotz deiner Krankheit ein guter Mensch bist. Und so, wie ich das sehe, haben wir beide Probleme – Dinge, die sich unserer Kontrolle entziehen. Wobei du immerhin deine Medikamente immer nehmen und ein bisschen mehr Kontrolle über dich behalten könntest.«
Er grinste immer noch.
»Ich wüsste nicht, was falsch daran sein sollte«, fuhr ich fort, »wenn zwei Leute, die im Grunde nur ein paar gesundheitliche Probleme haben, hin und wieder zusammen Pizza essen gehen. Wenn ich dir meine Nummer noch einmal gebe …«
»Ich kenne deine Nummer, Lucy. Ich kenne sie auswendig.«
Der Blick, den er mir zuwarf, ließ mich erschauern, und ich hoffte, dass er mir das nicht ansah. Zugleich hoffte ich, dass er es doch merkte.
»Dann wähl sie doch mal«, sagte ich. »Ich verspreche dir, dass ich ja sagen werde.«
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4
4 . Juni 2011 – für die Gruppentherapie
D ie bipolare Störung ist zum Teil genetisch bedingt. Meine Mom hatte sie, und ich habe sie. Bei meinem Bruder bin ich nicht sicher. Wenn manche Leute erfahren, dass jemand diese Krankheit hat – das ist zumindest meine Erfahrung –, glauben sie, das sei die Erklärung oder Entschuldigung für alles, oder dieser Mensch könne alles nur falsch sehen. Das ist unfair. Eine Person ist doch unendlich komplexer. Ich betrachte meine psychische Erkrankung gern als Zusatz zu meiner Persönlichkeit, als emotionalen Diabetes. Valproat ist mein derzeitiges Insulin, Stimmung mein Blutzucker. Wie jeder tapfere Diabetiker muss ich mich bemühen, meine innere Chemie im Gleichgewicht zu halten. Wenn ich das nicht tue, werde ich krank.
Sich mit dieser Störung im Leben zurechtzufinden, erfordert einiges Geschick. Sie unter Kontrolle zu halten, damit sie nicht die Kontrolle über mich übernimmt, erfordert einigen Mut. Manchmal braucht man einen Lotsen. Ich persönlich brauche ein Ziel. Lucy ist mein Ziel. Ob ich in einer dunklen Ecke kauere oder auf einem blendend hellen Gipfel sitze – mein Ziel ist immer, zu ihr zurückzufinden. Gleason sagt, das sei der entscheidende Unterschied zwischen mir und meiner Mutter. Sie hatte kein Ziel, nichts war ihr wichtiger als ihre Krankheit. Sie hat nur ihrer Krankheit vertraut. Nicht meinem Vater, auch nicht mir oder meinem Bruder. Ihre Welt drehte sich nur um eines – um dunklen, schweren, allumfassenden seelischen Schmerz. Irgendwann war er alles, was sie ausmachte. Ich weigere mich, es so weit kommen zu lassen.
Aber ihr Schmerz ist mir nicht fremd. Deshalb schummele ich ja mit meinen Tabletten.
Nachdem Peony Litman Mickey seine Medikamente verabreicht hatte, durften wir weitergehen, und wir schlenderten Hand in Hand zum
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