Tanz auf Glas
fassungslose Betäubung allmählich nachließ, nahm ich meine unendliche Erleichterung darüber wahr, nicht wieder krank zu sein. Aber
diese
Neuigkeit erfüllte mich mit solcher Angst und Beklommenheit, dass ich kaum mehr atmen konnte. Mit Beklommenheit und – wenn ich ganz ehrlich bin – einer plötzlichen, unbegreiflichen Freude. Ich war schwanger? Ich war schwanger.
Als ich schließlich Charlottes Praxis verließ, fuhr ich eine Weile ziellos herum und versuchte, ihren Rat zu befolgen: Sei einfach nur schwanger. Mach dir keine Gedanken. Mal dir keine Schreckensszenarien aus. Es funktionierte nicht. Ich fuhr die alte Landstraße entlang, die Brinley mit dem Nachbarcounty verband. Die Sonne ging unter, die Landschaft war so still und vertraut wie alte, bequeme Schuhe, und irgendwann begann ich so heftig zu weinen, dass ich rechts ranfahren musste.
Schwanger.
Ich hätte mit Charlotte essen gehen sollen, wie sie vorgeschlagen hatte, aber ich hatte nur noch weggewollt, von allem. Jetzt bereute ich es, dass ich allein war. Schwanger?
Trotz allem fing ich an, mir Sachen vorzustellen, die ich mir nicht vorzustellen hatte. Mich als Mutter. Mich mit einem Baby. Oh, wie ich den Duft von Babys liebe, und diese riesengroßen Augen bei einem winzig kleinen Menschen! Ein Krabbelkind mit lockigem Haar. Ich stellte mir ein Kleines vor, das schlecht geträumt hatte und mitten in der Nacht nach mir schrie: »Mama!«
Ich ließ den Motor wieder an, schaltete das Radio ein und fuhr nach Hause.
Ich bin in dem Haus aufgewachsen, in dem Mickey und ich jetzt wohnen. Es ist ein altes viktorianisches Häuschen mit üppigen Bäumen, die mein Vater vor meiner Geburt gepflanzt hat. Manchmal, wenn ich vor diesem Haus halte, bin ich wieder fünfzehn Jahre alt und meine starke, gesunde Mutter wartet im Wohnzimmer auf mich. Ich hätte alles darum geben, wenn sie jetzt dort wäre. Ich holte die Post aus dem Briefkasten, schaute die Rechnungen durch, und wenn mich jemand zufällig beobachtet hätte, musste er glauben, ich wäre mit nichts anderem beschäftigt als den Umschlägen in meiner Hand. Ich hob die Zeitung auf und öffnete die Haustür. Ein Raubüberfall auf einen Spielsalon hat es auf die erste Seite geschafft. Ich stellte mir vor, die Schlagzeile lautete LUCY CHANDLER SCHWANGER ! WAS DENKT SIE SICH DABEI ?
Dann hörte ich es wieder, ein Kinderstimmchen, das weinend nach mir rief: »Mama, Mama!« Sie hatte einen Alptraum. Sie? Ich schaffte es gerade noch ins Haus, ehe ich wieder die Fassung verlor.
Dieselben Gedanken verfolgten mich die Treppe hinauf und unter die Dusche. Sie waren immer noch da, als ich eine Dose Tomatensuppe aufmachte und sie dann unberührt in den Abfluss der Spüle kippte. Ein Baby. Ich könnte ihr – woher kam diese schmerzliche Gewissheit, dass es eine
Sie
ist, die meine Angst nur noch steigerte? – Priscillas altes Zimmer herrichten. Das war jetzt mehr oder weniger eine Abstellkammer, in der das Laufband und der Computer herumstehen und Berge von Wäsche, die endlich mal gebügelt werden müssten. Der ganze Krempel würde irgendwo unten Platz finden. Priss hatte als Kind das schönste Zimmer im ganzen Haus. Direkt neben Moms und Dads Schlafzimmer, mit einer breiten, gepolsterten Fensterbank und jeder Menge Tageslicht. Perfekt für ein Kinderzimmer.
Es wurde mein Zimmer, als nur noch Mom und ich da waren und Mom im Sterben lag. So war ich nahe genug, um zu hören, wenn sie mitten in der Nacht nach mir rief, weil sie Schmerzmittel brauchte oder auf die Toilette musste. Das Zimmer lag jedenfalls auch nahe genug an unserem Schlafzimmer, damit wir ein Baby schreien hören würden, das schlecht geträumt hatte. Nein. Wie konnte ich nur daran denken? Das kam nicht in Frage.
Das Telefon klingelte, und auf dem Display wurde die Nummer des Edgemont Hospital angezeigt. Mickey. Ich konnte jetzt nicht mit ihm sprechen. Noch nicht. Nicht jetzt. Mickey könnte sich über diese Neuigkeit wahnsinnig freuen. Er würde unsere Abmachung, unseren Eid, unsere Gründe dafür einfach vergessen. Oh, wie gern würde er Vater werden! Trotz seiner vielen, vielen Bürden würde er über die frohe Botschaft jubeln. Er würde mir keinerlei Hilfe sein.
Als das Telefon verstummte, ging ich zu dem antiken Kleiderschrank in unserem Schlafzimmer und öffnete die quietschenden Türen. Von der einen Seite schleuderte der Spiegel mir mein ramponiertes Bild entgegen: nasses, wirres Haar, Mickeys altes 49 ers-T-Shirt – in dem ich immer
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