Tanz auf Glas
förmlich riechen, aber nicht verhindern. Na ja, das könnte ich schon, aber ich denke jedes Mal, ich hätte noch ein bisschen mehr Zeit, bis es dann plötzlich zu spät ist. Und dann stürze ich ab, schnell und tief, und enttäusche alle, mit denen ich zu tun habe.« Er schüttelte den Kopf. »Deshalb habe ich fast nur kurzfristige Beziehungen. Das ist eine sehr instabile, dumme Art zu leben.«
Ich nickte. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Ich habe dir Angst gemacht, oder?«
»Nein. Na ja, vielleicht ein bisschen. Ich kann nur nicht glauben, dass du so leben musst. Du hast doch eine Familie, oder?«
»Einen Bruder in Denver, aber wir stehen uns nicht besonders nahe. Ab und zu telefoniere ich mit meinem Vater, aber er lebt seit Jahren in New Orleans, und da komme ich selten hin.« Mickey zuckte mit den Schultern.
»Und deine Mutter?«
»Sie ist gestorben, als ich noch klein war.«
»Das kenne ich«, sagte ich. »Aber ich habe zumindest noch meine Schwestern.«
»Ich habe einen großartigen Geschäftspartner, der mehr als verständnisvoll ist, und Gleason – Dr. Webb, meinen Psychiater.«
»Du kämpfst also mehr oder weniger allein mit dieser bipolaren Störung? Schon fast dein ganzes Leben lang?«
»So ziemlich, ja.«
»Das finde ich erstaunlich. Du
bist
erstaunlich.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, bin ich nicht. Ich versuche nur, mit den Karten zu spielen, die ich beim Austeilen nun mal abbekommen habe. Und du glaubst das jetzt vielleicht nicht, aber ich bin noch eine ganze Menge mehr als bloß geisteskrank.«
Ich lächelte. »Daran zweifle ich nicht.« Mickey Chandler brach mir das Herz. Ich bemühte mich, das Ganze vernünftig zu sehen, denn es war nicht gerade klug, sich derart heftig zu einem
Geisteskranken
hingezogen zu fühlen.
»Sollst du eigentlich mitten in der Nacht hier unten herumsitzen, oder bist du abgehauen?«
Er grinste. »Nein, ich mache mich heute ganz gut, also genieße ich das Cafeteria-Privileg.«
»Na dann, Glückwunsch zu deinem guten Betragen.«
Er lachte, und ich erinnerte mich plötzlich sehr deutlich daran, wie sein Lächeln mich an meinem Geburtstag überwältigt hatte. Ich ertappte mich dabei, dass ich in diesem Lächeln nach Anzeichen seiner Krankheit forschte, aber ich konnte keine erkennen. Die Krankheit war da, in seinen Augen, aber nicht in seinem Lächeln.
»Erzähl mir von
dir,
Lucy Houston.«
»Ach, es ist schon spät. Ein andermal vielleicht.« Ich stand auf, aber Mickey packte mich am Handgelenk. »Kommt nicht in Frage, mein Fräulein. Ich habe alles auf den Tisch gelegt, jetzt bist du dran.«
Ich setzte mich wieder, ganz auf seine Hand konzentriert. Ich wollte eigentlich nicht, dass er mich losließ, zog sie aber trotzdem zurück.
»Na gut«, sagte ich und kämmte mir das Haar mit den Fingern. »Ich studiere an der Northeastern – ach, das weißt du ja schon. Nächstes Frühjahr mache ich meinen Abschluss. Dann werde ich Geschichte unterrichten. Ich habe zwei Schwestern, Lily und Priscilla – die kennst du auch schon. Ich bin hier in Brinley geboren und aufgewachsen, und ich will hierher zurück und an der Midlothian Highschool unterrichten.«
»Eltern?«
»Ich hatte wunderbare Eltern. Leider wurde mein Vater ermordet, als ich noch klein war. Er war Polizist. Und meine Mutter starb, als ich siebzehn war – an Krebs. Der Krebs hat auch meine Großmutter und meine Tante umgebracht, womit meine Familie mütterlicherseits praktisch ausgelöscht ist.« Das klang leicht dahingesagt, obwohl ich es gar nicht beabsichtigt hatte, und ich bemühte mich, einen anderen Tonfall zu treffen. »Deshalb liegt Priscilla da oben. Sie haben ihn rechtzeitig erwischt, Gott sei Dank, aber wir Houston-Mädels sind stets gegen das Schlimmste gewappnet.« Ich spielte immer noch mit meinem Haar herum – dazu neige ich leider, wenn ich nervös bin. Verlegen hörte ich damit auf. »Das ist
mein
Dämon. Das ist die große Unbekannte, mit der ich jeden Morgen aufwache. Bin ich heute noch gesund? Gab es irgendeinen zellulären Aufstand, während ich geschlafen habe? Irgendeine Cytoplasma-Rebellion, von der ich wissen sollte? Das ist die Hölle. Und wenn ich das sagen darf, meine Hölle ist schlimmer als deine, weil ich mir nicht nur Sorgen um mich und meine Zellen machen, sondern auch noch ernsthafte Ängste um meine Schwestern ausstehen muss. Diese ständigen Sorgen machen einen fertig.
Das
ist eine sehr instabile, kranke, dumme Art zu leben.«
Mickey Chandler
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