Tanz auf Glas
ständig meine Schwester an und erzählte ihr praktisch alles. Sie nahm die Schilderungen unserer Verabredungen, Minute für Minute, mit pflichtbewusster Neugier und Geduld auf. Da Mickey und ich uns nicht allzu oft sehen konnten – schließlich war ich noch in Boston und er in Connecticut –, dachte er sich immer etwas Besonderes für unsere Treffen aus, und Lily war hingerissen. Mal verbrachten wir den Tag auf dem Bashan Lake, den ich Mickeys See nannte, weil er am Ufer wohnte. Dann überraschte er mich mit Karten für ein Open-Air-Konzert des Boston Pops Orchestra im Hatch Shell. Oder ich sollte ihn am Flughafen treffen, und wir flogen nach New York, weil er Karten für die
Letterman
-Show ergattert hatte. Kurz, Mickey gab alles. Einmal mietete er ein komplettes Kino in Colchester nur für uns beide, damit wir uns
Besser geht’s nicht
ganz allein ansehen konnten. Als Jack Nicholsons Figur Melvin sich am zwanghaftesten verhielt und Helen Hunt entnervt die Hände hob, beugte Mickey sich zu mir herüber und flüsterte: »Siehe unser Leben.« Als sie schließlich zusammenfanden, erwiderte ich dasselbe.
Lily bezeichnete uns als ekelhaft romantisch, und das waren wir wohl auch. Ich fand es einfach wunderschön mit ihm. Ich liebte seine großen Inszenierungen genauso wie seine stillen Momente. Ich fühlte mich wohl, weil ich mit ihm mithalten konnte – wir machten Ausflüge mit dem Rad, gingen angeln, spielten Bowling. Er traf beim Tennis selten den Ball und ich konnte nicht Golf spielen, aber ansonsten waren wir sehr kompatibel. Ich sah ihm so gern dabei zu, wenn er mich ansah! Ich liebte ihn dafür, dass meine Gefühle für ihn so etwas wie Ehrfurcht in ihm zu wecken schienen. Ich liebte ihn für all die süßen Dinge, die er für mich tat. Wenn wir uns nicht treffen konnten, weil ich das ganze Wochenende lang mit meiner Studiengruppe pauken musste, ließ er uns immer Essen liefern – Pizza, Gebäck, Riesenbaguettes, manchmal sogar Blumen. Ich liebte seine vielen Facetten, von denen er behauptete, sie seien ein Teil seiner psychischen Störung. Aber ich sah da keine Störung. Ich sah einen prachtvollen Bildteppich, der sich vor meinen Augen ausrollte.
»Sei trotzdem vorsichtig, Lu«, sagte meine Schwester stets. Das war ein guter Ratschlag, den ich jedes Mal zu hören bekam, wenn wir uns unterhielten – also fast jeden Tag.
Hingegen dachte ich selten daran, irgendetwas von alledem Priscilla zu erzählen. Das hört sich vielleicht schlimm an, war aber eigentlich nicht ungewöhnlich. Priscilla war eine völlig andere Art Schwester. Sie verließ Brinley – und Lily und mich – mit siebzehn, nachdem sie meiner weinenden Mutter, mit der sie sich ein Jahr lang nur gestritten hatte, ein paar hässliche Abschiedsworte ins Gesicht gebrüllt hatte. Damals war ich zehn, Lily fast vierzehn, und wir waren erleichtert, als Priss zu Hause auszog. Wir beide wussten schon damals, dass wir niemals von Brinley fortgehen würden. Priscilla, fest entschlossen, Brinley so schnell und so weit wie möglich hinter sich zu lassen, stürzte sich in die halsabschneiderische Welt der großen Konzerne, in der nur der Erfolg zählte. Lily blieb zu Hause und heiratete den Jungen von nebenan, womit ihr Leben in Priss’ Augen praktisch vorbei war. Über mich hatte sie noch kein Urteil gefällt, denn Priscilla wollte einfach nicht glauben, dass ich wirklich nach Brinley zurückkehren würde, um in dem Haus zu wohnen, in dem wir aufgewachsen waren, und an jener Highschool zu unterrichten, an der wir unseren Schulabschluss gemacht hatten. Aber genau das war mein Plan. Priscilla liebte uns, aber wir machten es ihr nicht leicht. Sie hatte sich für höchste Ansprüche und mondäne Kultiviertheit entschieden, die Lily und mir bedauernswert gleichgültig waren. Und da wir so wenig gemeinsam hatten, konnte ich mir kaum vorstellen, dass sich Priscilla sonderlich für mein Liebesleben interessieren würde. Aber wenn mein Liebesleben Mickey Chandler hieß?
Ich vermute, ich habe ihr nichts von unserer Beziehung erzählt, weil Priss ihn zuerst gesehen hatte. Sie waren zwar nie zusammengekommen, aber ich war ziemlich sicher, dass sie sich
ihn
und
mich
nicht zusammen vorstellen konnte. Irgendwann würde ich mich wohl mit ihr zum Lunch treffen, ein Stündchen Neuigkeiten austauschen und dann beiläufig erwähnen, dass ich mit Mickey zusammen war. Ich würde meine Beziehung zu ihm offenlegen, sie verteidigen und ansonsten nicht viel mehr dazu
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