Tanz auf Glas
beerdigt hatte, von der zusammengeknüllten Liste der Dinge, die ich mir immer gewünscht hatte, aber für jemanden wie mich für unerreichbar hielt. Ich erzählte ihr nicht, dass ich an dem Tag, an dem meine Mutter gestorben war, damit begonnen hatte, Wünsche abzuheften, Hoffnungen, alles, was ich niemals erlangen würde. Aber Lucy hatte ich davon erzählt.
An jenem Abend hatten wir auf der Hollywoodschaukel auf meiner Veranda gesessen. Wir hatten uns schon die halbe Nacht lang unterhalten und gerade begann die zweite Hälfte. Lucys nackte Füße lagen in meinem Schoß, und ich streichelte ihren glatten Unterschenkel. Da erzählte ich ihr von meiner Liste und wie und warum sie entstanden war. Als ich fertig war, blickte sie lächelnd zu mir hoch, und ihre Augen schimmerten im Mondschein. Sie sagte: »Dir ist doch klar, dass dir jetzt gar nichts anderes übrigbleibt, als mich zu lieben, Michael Chandler?«
»Ach so? Und warum?«
Sie küsste mich und flüsterte mir ins Ohr: »Weil ich für jeden einzelnen Punkt auf dieser Liste eine Antwort habe.«
Die Erinnerung an den Augenblick, in dem sie mich dazu brachte, das zu glauben, schnürte mir die Kehle zu. Und nun stand Lily vor mir und wollte wissen, wie ich glaubte, diese Frau lieben zu können. Was gab es da zu sagen? Konnte man sich darauf verlassen, dass ich keinen Mist bauen würde? Nein, und das tat mir entsetzlich leid. Aber ich versprach Lily, dass sie sich auf meine Liebe zu Lucy verlassen könne. Denn diese Liebe sei der Grund für alles, was ich durchgemacht hatte, um es hierher zu schaffen, und für alles, was ich durchmachen würde, um hier bleiben zu können – genau hier, nämlich in Lucys Leben. Ich sah Lily an und bemühte mich, nicht vor ihr zu weinen, aber es gelang mir nicht ganz. Da trat sie mit Tränen in den Augen direkt vor mich hin und starrte mich eindringlich an, als suchte sie nach einer Lüge.
Schließlich schlang sie die Arme um mich und sagte: »Ich verstehe, warum Lucy dich liebt, Mickey. Bitte versprich mir, dass du gut zu ihr sein wirst.«
Ich drückte sie fest an mich. »Falls ich das große Glück haben sollte, deine Schwester für mich zu gewinnen, werde ich mein Bestes geben, das verspreche ich dir.«
Lily zur Schwester zu haben ist ein bisschen so, als liefe ich neben einem Spiegel durchs Leben, der nur das Beste an mir zeigt. Wie gern wäre ich wirklich die Person, die meine Schwester in mir sieht! Aber so ist Lily eben. Sie hat mir einmal erzählt, dass sie nach meiner Geburt glaubte, ich sei ein Geschenk von unserer Mutter für sie, eine neue Puppe, die sie mit ihrer unendlichen Liebe überschütten könne. Und ich war offenbar ein bereitwilliges und gehorsames Spielzeug gewesen. Die Familienlegende besagt, dass meine Schwester oft all ihre Stofftiere und Puppen in einem Kreis versammelte und mich in die Mitte setzte. Dann brachte sie dieser bunt zusammengewürfelten »Klasse« das Alphabet bei, die ersten Zahlen, Lieder und Gedichte. Als ich in die erste Klasse kam, konnte ich schon lesen. Mom erzählte, dass ich das Lily zu verdanken hatte, die mir voller Begeisterung ihre Übungswörter und -sätze vorgelesen und darauf bestanden hatte, dass ich sie wiederholte. Daran kann ich mich erinnern, aber meine frühmorgendlichen Übungen mit meinem Vater haben sicher auch dazu beigetragen.
Ich fand schon immer, dass Lily und ich mit unseren synchronen Seelen eher Zwillingen gleichen. Sie kennt mich auf eine unheimliche, unerklärliche Art. Sie spürt meine Freude, meinen Kummer. Sie hofft meine Hoffnungen, weint meine Tränen, lacht mein Lachen. Und ich kenne sie auf dieselbe Weise. Ich sehe auch Lilys Stärke, obwohl sie behauptet, die gäbe es gar nicht.
Als Schwestern hatten wir den Tod unserer Eltern gemeinsam durchlebt, den plötzlichen, tragischen Tod meines Vaters wie auch das lange, qualvolle Sterben meiner Mutter. Dann hatte Lily das Baby verloren, das zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden war. Und sie hätte beinahe auch mich verloren, damals, als der Krebs mich fast besiegt hätte. Lily will über all das gar nicht sprechen, und ich weiß, dass sie sich manchmal kaum mehr zu atmen traut. Aber Lily besteht nicht nur aus Angst und Verlusten. Tief auf dem Grund aller schlimmen Dinge liegt immer auch etwas Gutes. Zum Beispiel Ron, der schon ewig zu unserem Leben gehört.
Ich erinnere mich an den Thanksgiving-Abend drei Monate nach Moms Tod. Wir waren alle im Schlafzimmer unserer Eltern. Lily war gerade nach
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