Tanz auf Glas
schlecht sein muss. Ich weiß dann nur, dass etwas in ihm aufkeimt. Wenn er schwer depressiv wird, fühlen sich seine Lippen anfangs völlig leblos an. Es ist keinerlei Spannkraft, keine Leidenschaft da – doch dann werden seine Küsse beängstigend verzweifelt. Wenn er völlig verrückt ist, von Wahnvorstellungen erfüllt, dann schmeckt er nicht einmal wie sonst. Aber wenn die Sterne günstig stehen, so wie jetzt gerade, erleben wir beide kosmische Vollkommenheit, während das Spiel unserer Lippen, Zähne und Zungen uns halb die Kehlen zuschnürt.
Mickey beendete den Kuss mit vielen kleinen Küsschen, die über mein Kinn und den Hals hinabliefen. Als ich schon so weit war, mir auf offener Straße die Hose vom Leib zu reißen, stellte er mich vorsichtig auf den Boden und lachte. »Ich habe dich vermisst, mein Schatz.«
»Ich dich auch«, entgegnete ich ein wenig atemlos. Ich hob seinen Rucksack auf und zog seinen Arm um meine Schultern, und wir gingen zum Haus. »Wie wäre es, wenn wir segeln gehen und nie wieder zurückkommen?«, schlug ich verträumt vor.
»Weil ich das mit der Kreuzfahrt versaut habe?«
Ich lachte, denn die Kreuzfahrt hatte ich völlig vergessen. »Ja, natürlich.«
»Klingt gut.«
Wir packten Eis und Getränke und Schinkensandwiches in die Kühlbox und ein paar Klamotten zum Wechseln in meine große Strandtasche, nur für den Fall, dass wir uns entschieden, über Nacht an Bord zu bleiben. Währenddessen unterhielten wir uns über alles, was uns seit Mickeys Einweisung beschäftigt hatte: die Trauerfeier für Celia, Peony Litman, die Telefonrechnung, die Sonderaktion in Lilys Laden. Dabei wich ich dem Thema aus, über das wir am dringendsten sprechen mussten. Andererseits konnte ich es kaum erwarten, Mickey von unserer größten Neuigkeit zu erzählen, obwohl der rationale Teil von mir die harten Tatsachen nie aus den Augen verlor.
Aber vorerst konnte ich mich kaum an meinem Mann sattsehen. Jedes Mal, wenn er etwas ganz Normales tat – die Post durchsehen, ein Glas aus der Spülmaschine nehmen und sich Milch einschenken oder mir zuzwinkern, wenn er mich dabei ertappte, wie ich ihn anstarrte –, spürte ich dieses verrückte Kribbeln, das nach so vielen Jahren wahrscheinlich gar nicht mehr da sein musste. Aber es war noch da. Und wie.
»Ich habe ein Geschenk für dich, Lu. Möchtest du es jetzt haben?«
»Unbedingt.«
»Mach die Augen zu.«
Ich hörte den Reißverschluss seines Rucksacks und das Rascheln von Papier. Dann spürte ich seine weichen Lippen auf meiner Stirn. »Okay, Augen auf.«
Auf seiner flachen Hand stand ein Vogelhäuschen, das in den gleichen gedeckten Farben gestrichen war wie unser Haus – Salbeigrün mit ein paar Akzenten in Korallenrosa. Ich lachte, denn wir haben eine kleine Sammlung solcher Werke. Jedes dieser Stücke steht für einen Sturm, den wir überstanden haben, und hat deshalb eine große Bedeutung für uns. Das Innere des offenen Häuschens war eine kunstvolle Miniaturversion des Raums, in dem wir standen: rote Polstermöbel, eine gewaltige Bücherwand, zwei bodentiefe Fenster mit schön gemaserten hölzernen Fensterläden. Ich zog Mickey an mich und küsste ihn in ganz und gar unanständiger Absicht.
Diese Zeiten liebe ich am meisten – diesen frischen Neuanfang nach einem Klinikaufenthalt. Ich bin nicht so naiv, mir einzubilden, er sei dann geheilt, aber diese Klinikaufenthalte bewirken immerhin eine Kursänderung – sie drehen ihn ein bisschen, bis seine Füße in die richtige Richtung zeigen. Mickey nennt es einen neuen Anlauf. Wir packen einfach alles, was diesem bestimmten Zusammenbruch vorausging, zusammen und werfen es fort. Das hat Gleason uns beigebracht. Er hat uns gelehrt, dass es nichts nutzt, sich zu wünschen, alles wäre anders. Es nutzt auch nichts, irgendetwas dafür verantwortlich zu machen oder irgendetwas übelzunehmen, so verständlich dieses Bedürfnis auch sein mochte. Also nehmen wir einen neuen Anlauf, beginnen mit einem leeren Blatt, leuchtender Hoffnung, neuer Verpflichtung und Hingabe. Und wir beginnen unseren Neuanfang immer damit, dass wir uns lieben, und das wollten wir auch diesmal als Allererstes tun, sobald wir den Hafen weit genug hinter uns gelassen hatten.
Wir standen an der Kreuzung Foster Pier und Main Street an einer roten Ampel, als ich Trent Rosenbergs Jeep Cherokee entdeckte. Mickey bemerkte ihn im selben Moment. »Ist das nicht deine Schwester da bei Trent?«
Sie standen uns direkt gegenüber,
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