Tanz auf Glas
vor der roten Ampel in Gegenrichtung, und unterhielten sich offenbar sehr lebhaft. Als die Ampel auf Grün sprang, flogen sie an uns vorbei, anscheinend ohne uns zu bemerken. Ich warf Mickey einen Blick zu, und er sagte: »Die arme Shannon.«
Da ich seit dem Trauergottesdienst nichts mehr von Priss gehört hatte, war ich dummerweise davon ausgegangen, dass sie nach Hartford zurückgekehrt sei. Sie jetzt mit Trent zu sehen, machte mich einfach traurig. Was dachte sich Priscilla nur dabei? Shannon Rosenberg war schwanger, sie und Trent bekamen ihr drittes Kind. Ich war froh, dass wir den Ort für heute verließen. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was meine Schwester da tat.
Um kurz nach eins erreichten wir den Hafen. Da heute Freitag war, hatten etliche Touristen das Wochenende schon eingeläutet und wir fanden nicht gleich einen Parkplatz. Casey Noonan, der Hafenmeister, half uns mit unserem Gepäck, und während er und Mickey das Boot dem obligatorischen Sicherheitscheck unterzogen, ging ich unter Deck und fand heraus, wo Priss die Nacht verbracht hatte. Meine Schwester hatte die kleine Kabine zerwühlt hinterlassen. Das Bett war nicht gemacht, eine leere Weinflasche und diverse Snackverpackungen lagen im Mülleimer, eine kleine Reisetasche und Kosmetikkram auf der winzigen Arbeitsfläche der Bordküche.
Typisch Priscilla. Kam einfach hierher und übernahm das Boot, ohne sich mit irgendjemandem abzusprechen. Kein Anruf, keine Nachfrage, sie zog einfach ein! Und was immer sie gerade trieb, es sah so aus, als hätte sie vor, danach wieder hierher zurückzukommen. Tja, Pech gehabt! Ich zog das Bett ab, stopfte ihre Sachen in die Reisetasche und überließ sie Casey mit der Bitte, sie Priss zu geben, wenn sie auftauchte.
Er lachte. »Oje, sie wird sicher fuchsteufelswild, wenn sie sieht, dass Sie das Boot genommen haben.«
»Gut möglich. Wenn Sie möchten, können Sie ihr von mir aus sagen, es täte mir leid. Und dass ein einfaches Gespräch das hätte verhindern können.« Ich lachte. »Sagen Sie ihr, was Sie wollen, Casey. Wir gehen segeln.«
»Na klar, ich richte es ihr aus.«
»Kann’s losgehen?«, wandte ich mich ein wenig zu scharf an Mickey. »Ich will endlich hier weg.«
»Werd nicht garstig zu
mir,
Lucille. Ich finde, wir sollten erst auf deine Schwester warten. Das gibt ein Feuerwerk. Wird sicher lustig.«
Mickeys sarkastische Idee hatte etwas, aber sie war nicht reizvoll genug, als dass ich im Ernst hierbleiben und eine hässliche Konfrontation mit meiner Schwester riskieren wollte. Wir reichten unsere geplante Route ein und legten ab. Als wir den Hafen hinter uns gelassen hatten, ohne dass Priscilla irgendwo zu sehen war, atmete ich erleichtert auf. Grundsätzlich habe ich nichts gegen einen ordentlichen Streit mit Priss, aber heute war mir nicht danach – nicht an diesem herrlichen, vollkommen wolkenlosen Tag.
Die Luft war so rein und weich und das Wasser so blau, dass jeder Gedanke an Priscilla bald verflog. Ich genoss die berauschenden Sinneseindrücke, während wir den Connecticut River hinaufsegelten. Mickey stand mit windzerzaustem Haar am Steuer.
Als wir gemächlich auf Hollis Cove zusegelten, verflogen unsere Sorgen. In dieser abgeschiedenen Blase in der Zeit waren wir nur zwei ganz normale Menschen: Ich war schwanger mit einer dunkelhaarigen Tochter, die riesengroße Augen haben würde, und mein Mann ein ganz normaler Kerl, dessen neu kalibrierte Synapsen in normalen Abständen feuerten. Mickey steuerte flussaufwärts, und ich umarmte ihn von hinten. Das Leben war schön.
Kurz vor Sonnenuntergang segelten wir in den Jachthafen von Hollis Cove. Wir hatten uns geliebt, die Sandwiches aufgegessen und uns noch einmal geliebt. Jetzt saß ich am Bug unseres Bootes in der warmen, weichen Nachtluft und sah zu, wie die Sterne zu funkeln begannen. Mickey warf den Anker und setzte sich zu mir. Ich lehnte mich an ihn, er schlang die Arme um mich, und seine Hände glitten unter mein Shirt. »Ich liebe dich, Lu«, flüsterte er, und mir brannten Tränen in den Augen. Ich wusste, dass er mich liebte. Wenn ich auch sonst nichts mehr wusste, dessen war ich mir gewiss.
Ich beobachtete drei Graureiher am Ufer, die sich mit ihren dünnen, anmutig gebogenen Schnäbeln um ihr Abendessen kümmerten. Dann zog ich Mickeys Gesicht an meinen Hals und flüsterte: »Ich muss dir etwas sagen.«
Er entgegnete das, was er auf solche Ankündigungen stets erwiderte. »Ist es gut oder schlecht?«
»Ich bin mir
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