Tanz auf Glas
wie ich es noch versuchen sollte.
»Geh nach Hause, Mickey. Geh nach Hause, bleib allein und sei verrückt, wenn du das unbedingt brauchst.«
»Lucy …«
Ich sah ihn an und gab mir Mühe, nicht zu weinen. Ich schaffte es nicht ganz, aber ich reckte das Kinn und sah ihm fest in die Augen. »Mickey, weißt du, was ich glaube? Jeder Mensch sollte wenigstens einer anderen Person auf diesem verrückten Planeten so wichtig sein, dass sie für ihn zu kämpfen bereit ist. Sogar ich. Und für mich kämpft hier niemand. Das war’s dann.« Ich ging hinein, schloss die Tür und spürte meinen wummernden Herzschlag bis in den Kopf. Ich wischte meine Stapel Notizen vom Tisch, knallte das Lehrbuch an die Wand und kippte dabei ein Glas Cola um. Dann schaute ich auf das Chaos hinab, dachte an die Prüfung morgen früh um halb acht, auf die ich nicht vorbereitet war, und fing erst richtig an zu weinen. Mein Kopf dröhnte. Ich nahm drei Schmerztabletten und ging ins Bett.
Irgendwie schaffte ich es durch die letzte Prüfungswoche. Ich bestand, holte meinen Doktorhut, den Talar und die Schärpen ab, erinnerte meine Schwestern noch einmal daran, wann sie am nächsten Tag zur Abschlussfeier da sein sollten, und machte mich daran, Kisten für den Umzug nach Brinley zu packen. Wenn ich an Mickey dachte, stellte ich einfach das Radio ein wenig lauter. Offenbar meinte er es diesmal ernst, denn ich hatte nichts mehr von ihm gehört.
Um halb zehn musste ich in der Matthews Arena sein, und um zehn Uhr würden wir feierlich ins Stadion einmarschieren. Ich nahm all meine Kraft zusammen, um mich dorthin zu schleppen. Für diesen Abschluss magna cum laude hatte ich hart gearbeitet, und eigentlich hätte ich schon ganz kribbelig sein müssen. Meine Ausbildung war hiermit abgeschlossen, und es hätte aufregend sein sollen, zu den Klängen von »Pomp and Circumstance« in diese riesige Sporthalle einzumarschieren. Aber ich wollte es nur endlich hinter mir haben. Das Stadion war riesig und voll besetzt, aber ich bildete mir trotzdem ein, ich könnte irgendwo in dieser Menge meine Schwestern entdecken. Natürlich nicht.
Die Reden waren dankenswert kurz, und ehe ich wusste, wie mir geschah, wurde uns offiziell unser akademischer Grad verliehen. Es schien ewig zu dauern, bis ich endlich an die Reihe kam, aber schließlich durfte ich mich erheben. Die meiste Zeit über hatten sich die Zuschauer respektvoll verhalten – ein paar Jubelschreie hier und da, ein paar Kuhglocken wurden geläutet, aber hauptsächlich gab es Applaus und einzelne Rufe, wenn der Stolz die gerührten Angehörigen übermannte. Endlich war ich an der Reihe. Lucy Houston. Ich trat einen Schritt vor und hörte meine Schwestern kreischen, übertönt von einer Männerstimme, die brüllte:
»Ich liebe dich, Lucy!«
Ich blieb verblüfft stehen und wandte mich in die Richtung, aus der die Stimme kam, konnte aber niemanden sehen. Weil ich zu lange stehen blieb und den Fortgang der Zeremonie aufhielt, schubste ein Kommilitone mich schließlich weiter. Ich nahm meine Urkunde entgegen und dachte schon, ich hätte mir die Stimme nur eingebildet. Doch gerade, als mein Dekan mir gratulierte, hörte ich sie wieder, noch lauter:
»
ICH LIEBE DICH
,
LUCY
!
« Der würdevolle Professor lächelte und sagte: »Miss Houston, ein sehr lauter und ungezogener Mann ist in Sie verliebt. Schön für Sie.«
Irgendwie schaffte ich es zurück an meinen Platz, ließ mich auf meinem Stuhl nieder und starrte steif geradeaus. Ich wusste, dass er mich beobachtete – ich spürte es –, und sämtliche Gefühle, die ich zu zügeln versucht hatte, seit er gegangen war, brachen wieder auf. Ein paarmal riskierte ich einen Blick in die Richtung, aus der die Rufe gekommen waren, doch ich konnte ihn nicht sehen. Ich weiß nicht, wie ich den Rest der Zeremonie überstanden habe. Als es vorbei war, blieb ich einfach sitzen, wie betäubt und ein wenig verängstigt. Lily kam zu mir und schlang mir die mageren Arme um den Hals. »Ich freue mich so für dich!«
»Danke. Kaum zu glauben, dass ich es geschafft habe.«
Sie lachte. »Nein, das meine ich nicht. Ich
freue
mich so sehr. Er ist großartig.«
All die Tränen, die ich seit unserem Streit trotzig zurückgehalten hatte, begannen auf einmal zu fließen. »Was soll das? Was meinst du damit?«
Dann war Mickey da und ich lag in seinen Armen und er küsste mich und ich weinte und Ron machte Fotos und Priscilla schüttelte den Kopf und bemühte sich, nicht besorgt
Weitere Kostenlose Bücher