Tanz auf Glas
rasten seine Gedanken so schnell, dass er das Gefühl hatte, den nächsten Augenblick quasi zu überholen. Er schilderte mir den psychotischen Drang, am Tag vorbeizurennen, so viel Vorsprung zu gewinnen, dass er irgendwann auf den Tag zurückschauen und ihn nach seinen Vorstellungen umgestalten konnte.
Während dieser therapeutischen »Verabredungen« erinnerte Mickey mich an einen lockeren Professor, der seine Krankheit mitfühlend in der dritten Person erläutert – vollkommen rational und als guter Redner. Er entschuldigte sich nicht dafür, wer – oder was – er war, und ich war bis über beide Ohren verliebt in den Mann, der mir diesen Mann erklärte. Aber Gedanken musste ich mir natürlich über den Mann machen, der dort erklärt wurde. Das sagte ich Gleason in einem Gespräch unter vier Augen, und er riet mir, Mickeys viele Nuancen so gut wie möglich zu einer einzigen Gestalt zu vereinen. Er ließ mich Mickeys so unterschiedliche Anteile aufzeichnen, von seiner Anziehungskraft und seinem Charme bis zu seiner Grausamkeit, die Bedürftigkeit, die seine Depressionen begleitete, die irrationale Selbstüberschätzung, die zur Manie gehörte, die Zärtlichkeit und Verletzlichkeit. Damals erzählte ich Lily, dass ich beim Betrachten dieser vielen Teile das Gefühl hatte, mit einer ganzen Studentenverbindung zusammen zu sein.
Während sich Mickeys Leben vor mir ausbreitete, blieb es ihm ein Rätsel, wie ich ihn lieben konnte. Er wandte sich mehr als einmal von mir ab, weil er mich schützen wollte. Einmal hielt er das sogar höllische zehn Tage lang durch. Ich war im Endspurt vor den Abschlussprüfungen, und Mickeys Timing machte mich furchtbar wütend. Mein Leben lief wunderbar, ich war verliebt, ich würde bald mit der Uni fertig sein, und ich bereitete mich darauf vor, wieder nach Hause zu ziehen und meine ersten Sommerkurse zu geben. Vielleicht lag es auch daran, dass ich so viel um die Ohren hatte, jedenfalls verkraftete mein Herz seinen Rückzug nicht, und unser Gespräch darüber wurde rasch zu einem lautstarken Streit vor meiner Haustür.
Er stand da und leierte etwas heraus, das sich anhörte, als hätte er es wochenlang eingeübt.
»Lucy!«, rief er. »Kannst du denn nicht verstehen, wie das ist, wenn du vor der ganzen Welt verbergen musst, wie verrückt du bist? Kannst du dich in jemanden hineinversetzen, der sich selbst beigebracht hat, seine Seltsamkeit im Griff zu behalten? Ich tue das ständig. Ich trage eine Maske. Dahinter bin ich ein Geisteskranker, aber ich weiß, dass ich dem Rest der Welt als ganz normaler, lebenstüchtiger Mensch erscheine. Ich habe mich darauf trainiert, nicht in den unmöglichsten Momenten laut herumzubrüllen, indem ich mir verspreche, dass ich das später tun kann. Ich kann meine Reizbarkeit steuern. Ich quetsche sie in eine sozialverträgliche, akzeptable Form, aber das geht nur, weil ich weiß, dass ich sie später rauslassen kann. Später, wenn ich allein bin! Verstehst du, Lucy? Ich werde nie allein sein, wenn wir das durchziehen. Du wirst immer da sein. Du wirst da sein, wenn ich mich nicht mehr beherrschen kann, ich werde dir Angst machen, und dann wirst du mich verlassen.«
»Ich werde dich nicht verlassen.«
»Das kannst du gar nicht wissen. Du kennst mich nicht!« Er brüllte inzwischen, und ich versuchte, ihn in die Arme zu nehmen, doch er wich zurück und fing wieder an zu schreien. »Lucy, du hörst mir nicht zu. Ich kann alles vortäuschen! Ich weiß, wie ich es anstelle, völlig normal zu wirken, wenn es sein muss. Aber das kann ich nicht lange aufrechterhalten. Ich muss alles andere rauslassen, wenn ich allein bin.«
»Und? Soll das heißen, dass du lieber allein wärst, als dich mit mir befassen zu müssen?«
Ich sah ihm an, dass meine Frage ihn getroffen hatte, aber er hatte sich in Rage geredet. »Ja. Ja, verdammt noch mal, ich glaube, genau das will ich!«
Ich nickte. Mein Kopf schmerzte, Tränen brannten mir in den Augen. »Ich liebe dich. Und dass du da stehst und dummes Zeug redest, ändert nichts daran. Aber du musst dich schon entscheiden. Es ist dein Leben, aus dem du mich ständig rauswerfen willst, also ist es auch deine Entscheidung. Ich tue alles, was ich kann, um mich zu beweisen. Wenn dir das nicht genug ist, wenn ich nicht gut genug bin und du wirklich allein sein willst, dann musst du dich schon endgültig entscheiden.«
Mickey sah aus, als hätte ich ihn geschlagen. Aber ich war so müde und wütend, dass ich nicht wusste,
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