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Tanz auf Glas

Tanz auf Glas

Titel: Tanz auf Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ka Hancock
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schrie ich. Ich stellte die Milch in den Kühlschrank und fuhr sofort zu ihm rüber, um nach ihm zu sehen.
    Als ich in der dritten Klasse war, wurde die Schule bei einem Brand völlig zerstört. Dank der allmonatlichen Feueralarm-Übung wussten wir, was zu tun war, aber wir hätten uns nie träumen lassen, dass es einmal tatsächlich dazu kommen würde. Genau so fühlte sich das für mich an – als sei alles, was ich bisher in Bezug auf Mickey gelernt hatte, eine Art Übung für einen Fall, der eigentlich nie eintreten sollte.
    Die Fahrt nach East Haddam dauerte zwanzig Minuten, aber ich war wild entschlossen, es in zehn zu schaffen. Ich hielt mich für relativ ruhig, bis ich auf der Smith Road bemerkte, dass ich statt der vorgeschriebenen sechzig Stundenkilometer über hundert fuhr. Ich zitterte am ganzen Leib, doch ich zwang mich, langsamer zu fahren.
    Mickeys Haus lag am Bashan Lake. Mit fünfundzwanzig Jahren hatte er es seiner Großmutter abgekauft, damit sie in eine Pflegeeinrichtung ziehen konnte. Natürlich hatte sie ihm trotzdem einen guten Preis gemacht, und dieses gute Geschäft kostete ihn das gute Verhältnis zu seinem Bruder. Als wir die Tapete im Gästezimmer ablösten, hatte Mickey mir erzählt, dass er David überraschen und ihm die Hälfte abgeben wolle, wenn das Haus endlich verkauft sei. Doch die Villa im Kolonialstil war ein Endlos-Projekt. Vor allem das Foyer und die prächtige Treppe, die Mickey mühselig restauriert hatte, bis sie wieder in ihrer ursprünglichen Mahagoni-Schönheit erstrahlte.
    Ich erhaschte den ersten Blick auf das Haus und bemerkte einen Moment später blinkendes Blaulicht im Rückspiegel. Ärgerlich schlug ich mit der flachen Hand aufs Lenkrad, aber ich fuhr weiter. Ich schwöre, ich hätte angehalten, wenn außer mir irgendjemand auf der Straße unterwegs gewesen wäre, aber weit und breit war keine Seele, und ich musste schnell zu Mickey, also trat ich aufs Gas und betete darum, dass die Polizei mich nicht aufhalten würde. Ich bog in die gekieste Auffahrt ab, kam rutschend zum Stehen und rannte um das Haus herum zur Hintertür. Sie stand sperrangelweit offen, aber Mickey war nirgends zu sehen.
    »Mickey?« Im kleinen hinteren Vorraum war er nicht. »Mickey!« In der Küche auch nicht, aber er war unübersehbar hier gewesen, denn der Raum war ein einziges Chaos. Mehrere hastig bekritzelte Blätter Papier lagen auf dem Tisch und dem Boden verstreut. Ich hob sie auf und sah, dass es ein Brief an mich war.
    Dann hörte ich ihn. »Wo bist du? Mic?«, rief ich und stopfte die Seiten in meine hintere Hosentasche. Ich rannte durch den Hausflur ins Foyer, wo er seit Wochen an der Treppe arbeitete. Als ich um die Ecke kam, hätte ich weinen und schreien mögen. Und ich wollte aufwachen, denn das hier konnte nur ein besonders farbenprächtiger Alptraum sein. Der wunderschöne Parkettboden, der letzte Woche sorgfältig abgedeckt gewesen war, lag bloß und war mit blauer Farbe bespritzt. Orangerote Farbe war offenbar mit Schwung an die Wand gekippt worden und auf die restaurierte Sockelleiste heruntergelaufen. Die hölzernen Treppenstufen, die Mickey geölt und auf Hochglanz poliert hatte, zierten grellbunte Fußabdrücke, und mehrere Geländerpfosten waren mit einer scheußlichen Mischung aus mehreren Farben bekleckst.
    Kurz unterhalb des oberen Treppenabsatzes saß Mickey, splitternackt und mit Farbe beschmiert.
    Ich schnappte nach Luft. »Was machst du denn da?«
    Er stand hastig auf und stieß dabei einen Eimer mit gelber Farbe um. Gebannt und wie gelähmt zugleich beobachtete ich, wie die Farbe in einem gemächlichen Strom die Treppe herabfloss. Mickeys Lachen rüttelte mich auf, doch so ein Lachen hatte ich noch nie gehört.
    »Sie sind ja früh dran! Kommen Sie nur herein. Sie sind doch von der Maklerfirma, oder? Ich hatte eigentlich drei Uhr gesagt, aber, na ja …« Er wies mit einer ausgreifenden Geste auf sein Projekt. »Jetzt haben Sie schon mal eine Vorstellung. Ich finde, wenn man ein Haus betritt, sollte man einen starken ersten Eindruck haben, meinen Sie nicht? Haben Sie zufällig Saft dabei? Ich brauche Treibstoff. Traubensaft ist sehr gesund, viele Antioxidantien. Das habe ich im Fernsehen gesehen. In der Sendung haben sie die Geburt eines zweiköpfigen Kindes gezeigt. Ja, wirklich. Sind Sie allein hier, oder haben Sie Ihr Büro dabei?«
    »Mickey, ich bin’s. Lucy.«
    »Lucy? So heißt meine Freundin. Scheiße, blute ich etwa?« Er schien erst jetzt zu

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