Tanz auf Glas
denken.«
»Nein. Nein.« Ich erkannte meine eigene Stimme kaum.
»Es tut mir leid, Mrs Chandler.«
Trotz meiner Wut schwankte ich am Rand der absoluten Panik. Doch ehe ich abstürzen konnte, schlangen sich die Worte meines Vaters um mich, so spürbar wie zwei starke Arme. Ich war wieder fünf Jahre alt, er kniete an meinem Bett, und ich spürte seinen Atem weich über mein Gesicht streichen. Ich hörte den gleichen Ernst in seiner Stimme, vernahm seine Worte mit dem gleichen bedingungslosen, blinden Vertrauen.
Der Tod ist nicht das Ende, Lulu. Und er tut nicht weh. Und wenn du keine Angst vor dem Tod hast, kannst du nach ihm Ausschau halten und vorbereitet sein …
Aber ich
hatte
Angst.
Dann stürzte die Mauer meiner Wut in sich zusammen, und die aufgestauten Emotionen brachen aus mir hervor. Mein lautes, rücksichtslos rotziges Schluchzen veranlasste eine Krankenschwester, die gerade draußen vorbeiging, nach mir zu sehen. Ich weinte so lange, bis ich völlig erschöpft war, und es dauerte eine ganze Weile, bis mein Herzschlag nicht mehr so hämmerte.
Als das Hämmern aufgehört hatte, malte ich mir aus, die liebevolle, beruhigende Hand meines Vaters läge auf meinem Kopf, und die Vorstellung, ihn so nahe bei mir zu haben, wiegte meinen Kummer in den Schlaf. Während mein Atem schon ganz langsam ging, suchte ich mit verweinten, geschwollenen Augen den Raum ab, doch nirgends lauerte eine schöne Besucherin. Gut. Sicher wusste sie, dass sie heute Nacht hier nicht willkommen war.
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17
9 . August 2011
I ch leide unter Leblosigkeit, kann mich nur langsam bewegen, schwerfällig, wie gelähmt. Vielleicht ist das die Ruhe vor dem Sturm. Vielleicht ist das auch geistige Gesundheit – die Art, wie normale Männer, stabile Männer, ihre Krisen überstehen können. Letztes Mal war es nicht so. Beim letzten Mal, als sie dieses gefürchtete Wort aussprachen, durchfuhr mich die Angst wie ein Stromschlag und blieb in mir, bis es vorbei war. Diesmal war es ein erdrückendes Gewicht. Ich konnte all die schrecklichen Gedanken denken, all die schrecklichen Informationen aufnehmen. Ich konnte nur keinen Kontakt zu den Emotionen herstellen, die mit dieser Nachricht einhergehen sollten. Ich dachte daran, wie grausam dieser Zeitpunkt war, wie abscheulich das Schicksal, das sich ausgerechnet diese Zeit aussuchte, da wir ein Baby bekamen und vor Glück schier platzten. Die Gedanken waren da, aber sie trieben auf der Oberfläche dieser Leblosigkeit dahin, ohne richtig einzusinken. Vielleicht ist diese Taubheit ein Segen, weil ich dadurch den Schmerz nicht erreichen kann, nur die Worte finden. Stadium
IV
. Inoperabel. Metastasen. Schlechte Prognose. Sehr ernste Situation. Abtreibung. Abtreibung. Abtreibung. Lucy würde unsere Tochter abtreiben. Dann Chemotherapie. Bestrahlung. Operationen. Nach alledem könnte sie wieder gesund werden. Der Arzt sagte, die Chancen stünden nicht gut, aber wir müssten es auf jeden Fall versuchen, richtig? Dies war eine Art Geiselnahme – wenn wir alle Regeln befolgten und genau taten, was man uns sagte, bestand die Chance, eine geringe Chance, dass Lucy es schaffte. Und dann – wer weiß? – könnten wir noch einmal versuchen, ein Baby zu bekommen, das es nie hätte geben dürfen.
Vielleicht. Aber wahrscheinlich nicht.
All diese Gedanken trieben auf meinem Bewusstsein, während ich das Gitterbett in unserem Wohnzimmer auseinanderbaute.
Wenn man in einem kleinen Ort unter Menschen wohnt, die einen schon das ganze Leben lang kennen und mögen, gibt es so etwas wie Geheimnisse nicht. Es fing damit an, dass Elaine Withers sah, wie Jan und Lily bei Damian’s an einem Tisch saßen und weinten. Dann ging Mickey nicht zur Arbeit und lieferte Jared keine Erklärung dafür. Und als Ron Muriel Piper die Mahagoni-Anrichte mit Intarsien lieferte, die sie bei
Ghosts
gekauft hatte, verhörte sie ihn so lange, bis er schließlich zusammenbrach und ihr alles erzählte. Von da an explodierte die Nachricht über dem Ort wie ein Atompilz aus Gerede.
Als Mickey mich nur zwei Tage nach der Operation nach Hause brachte, stand das Kinderbettchen nicht mehr im Wohnzimmer, das sich stattdessen mit Blumen und Genesungswünschen gefüllt hatte. Lainy Withers hatte einen Topf Suppe auf dem Herd hinterlassen, Jan mein Bett mit einer neuen Tagesdecke bestückt. Diana Dunleavy hatte ein Bündel aktueller Bestseller, mit Bastschnur samt Schleife umwickelt, vor die Haustür gelegt, und Nathan Nash hatte die
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