Tanz der Dämonen
sehr kostbar gewesen sein, denn sie hat es mir nie in die Hand gegeben.
»Den Becher hat er mir gegeben«, hatte sie mit ihrer weichen Stimme gesagt, und das Wort »er« hatte einen seltsam traurigen und geheimnisvollen Klang gehabt. »Da trug er noch keine Krone …« Ich hatte nie gewagt weiterzufragen, aber sie, weil sie wohl meine Neugier spürte und sie vielleicht sogar schüren wollte, hatte noch hinzugefügt: »Wenn du größer bist, werde ich es dir erzählen …«
Dazu war es nie gekommen, und so blieb diese Geschichteeines jener Rätsel, die für mich die Erinnerung an meine Mutter beherrschten. Mutter. Was blieb, war der Schmerz. Wie sehr ich sie vermisste!
Ich fühlte erschrocken, dass mir plötzlich Tränen über die Wangen liefen. Wie kindisch und rührselig! Ich trocknete sie rasch, froh, dass niemand auf mich achtete. Aber gleichzeitig pochte in mir der Gedanke: der Kaiser! War er es, von dem sie gesprochen hatte? Einmal hatte sie den Namen »Carolus« geflüstert. Was verband sie mit ihm? Sie – und mich?
Das mörderische Gedränge in jenem Teil des Kirchenraums, in dem das Volk zugelassen war, die Ausdünstungen der zusammengepferchten Körper, der Weihrauch, der rußige Qualm so vieler blakender Kerzen – das alles verursachte mir Schwindel. So kämpfte ich mich zurück ins Freie, wo Baldachine und Verzierungen für den Empfang der Gäste angebracht worden waren. Pietro, der plötzlich draußen auftauchte, hatte offenbar auch keinen Sinn mehr für den Staatsakt. Er blickte eifrig suchend um sich und hörte nicht auf mein Rufen. Schließlich fand er, was er gesucht hatte: Rosanna. Irgendwer musste ihm wohl den Hinweis gegeben haben, sie sei um diese Zeit hier anzutreffen. Das Mädchen erschien allerdings in einer Aufmachung, die mich zuerst zweifeln ließ, ob sie es denn wirklich sei. Sie trug ihr weit ausgeschnittenes rotes Kleid, dazu aber einen weiten Umhang, der trotz des Nieselregens so zurückgeschlagen war, dass er ihre Schultern sehen ließ. Farbige Bänder leuchteten in ihrem Haar. Sie war ohne Begleitung, aber zwei Kerle in Landsknechtstracht, die wohl nicht zur Wache gehörten, sondern als Schaulustige umherstreiften, buhlten um ihre Aufmerksamkeit. Pietro und mich würdigte sie keines Blickes. Dennoch glaube ich, dass sie uns bemerkt hatte. Sie schaute selbstbewusst um sich wie eine Herzogin. Was ihr aber zu entgehen schien, war die Tatsache, dass sie noch von anderer Seite unter genauer Beobachtung stand: Zwei stark geschminkte Frauen, ebenfalls in auffälliger Kleidung, zu denen sich bald noch zwei weitere hinzugesellten, ließen Rosanna nicht aus den Augen.
Musik und Gesang aus dem Innern des Doms kündigten nun das Ende der Messe an. Ein Strom von Menschen ergoss sich aus dem Seitenportal und drängte uns bis an den Rand des Vorplatzes, auf dem Gardesoldaten mit glänzenden Brustpanzern Aufstellung genommen hatten. Man hörte Trompeten vom Dach eines Hauses neben der Kurie, und aus den umliegenden Gassen scholl wirres Trommeln. Gruppen reich gekleideter Würdenträger und Höflinge mit Gefolge, Herolde in bunten Wappenröcken, Büttel und Soldaten, alle waren eilig bemüht, ihre verschiedenen Ziele zu erreichen, ehe der Regen niederging, der schon seit einiger Zeit über unseren Köpfen drohte. Es war kalt.
Neben mir hörte ich ein unterdrücktes Stöhnen. Es kam von Pietro. Er hatte sich wieder auf mich besonnen!
»Was kann ich nur tun?«, stammelte er. »Wie soll ich sie retten?«
»Was meinst du?«, fragte ich.
»Rosanna natürlich. Hast du sie nicht gesehen? Sie ist dabei, eine Hure zu werden. Sie wird eine von denen sein, die ihre Kunden in der Kirche suchen! Porca miseria! «
Ich hätte ihm sagen können, dass ich nicht überrascht sei und sie wahrscheinlich nicht das erste Mal auf den Strich gehe. Aber ich wollte ihm nicht wehtun.
Die Leibsoldaten des Kaisers, viele von ihnen offenbar Spanier, hatten inzwischen den ganzen Dombezirk besetzt. Nachdem die Bürger, die am Gottesdienst teilgenommen hatten, die Kathedrale verlassen hatten, erhielten nur noch Personen mit besonderer Erlaubnis Zutritt zum inneren Bereich. All die Rüstungen, Uniformen und Standarten boten ein beeindruckendes Bild.
Viele Schaulustige drängten sich um den Kordon der Soldaten, und ich verlor Pietro aus den Augen. Bettler waren übrigens auch nicht zu sehen, an keiner der gewohnten Stellen. Gewiss hatte man sie wieder planmäßig vom Schauplatz vertrieben. Jedenfalls war keiner meiner
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