Tanz der Dämonen
des Tages hinübergewuchert?
Nein, flüsterte ich. Was ich sehe, ist Wirklichkeit, aber ich sehe nur den kleinsten Teil. Es hilft nur eins: Ich muss den Vorhang zerreißen, der die Zusammenhänge verdeckt! Welches Gefühl derErleichterung, dass ich in diesem Augenblick selbst zum Jäger wurde und meinerseits entscheiden konnte, wie es weiterging – wenn auch nur für einen Schritt!
Der Regen hatte fast aufgehört, und das Leben in den schmutzigen Gassen nahm seinen Fortgang. Wo war mein »Opfer«? Nur einen Atemzug hatte ich meine Aufmerksamkeit sinken lassen, und schon war es außer Sicht! Oder nein, da verschwand er gerade um eine Mauerecke. Ich sah noch den Mantel. Schnell hinterher! Er lief nun mit ausgreifendem Schritt vor mir und fühlte sich offenbar völlig sicher. Er blickte sich nicht ein einziges Mal um. Ich hielt so viel Abstand, dass ich gerade gewiss sein konnte, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Manchmal, wenn ein verirrter Sonnenstrahl durch eine Wolkenlücke drang und für kurze Zeit alles in gleißendes Licht tauchte, blitzte an seinem Ohr der goldene Ring. Ich zog den Kragen ums Gesicht, um nicht sofort erkannt zu werden, sollte sein Blick mich zufällig treffen. Außerdem vermied ich, die Augen allzu fest auf seine Gestalt zu richten. Mein Gefühl warnte mich davor. Er könnte es merken, dachte ich. Auch erinnerte ich mich, in unserem Dorf einmal gehört zu haben, wie ein Jäger erzählte, man dürfe ein Wild, dem man auflauere, nicht unmittelbar anschauen, sonst spüre es die Aufmerksamkeit und erkenne die Gefahr. Wie dem auch sei, dieser Mann hatte ein bestimmtes Ziel und steuerte es ohne Umschweife an. Die Verfolgung führte mich durch mehrere Gassen und über einen kleinen Platz, wo Fässer abgeladen wurden. Hier musste Ohrring stehen bleiben, und ich wäre fast gegen ihn geprallt. Dann ging es zwischen zwei Mauern hindurch und über mehrere Höfe, in denen Kinder spielten, schließlich an einer von Wind und Wetter geschwärzten Kirchenwand entlang und in ein Viertel, wo nur wenige Menschen unterwegs waren. Hier konnte ich leichter auffallen. Vorsichtig vergrößerte ich den Abstand. Der Mann bog um eine Hausecke und war aus meinem Blickfeld verschwunden. Schnell setzte ich nach.
Und wenn er mich doch bemerkt hat? Hinter dieser Ecke aufmich lauert? Ich schob die Gedanken beiseite, weil ich unversehens vor einem ganz anderen Problem stand: Ohrring war verschwunden! In den zwei Gassen, die vor mir lagen, war niemand zu sehen. Hilflos stand ich da und musterte die Häuser auf beiden Seiten. Krähen schrien in der Luft. Es würde bald Abend sein. Dann hörte ich nur noch ein leises Rauschen: das Blut in meinen Ohren! Ringsum regte sich nichts. Fenster wie hohle Augen, Türen wie klaffende Münder. Die Häuser wirkten unbewohnt und verwahrlost. Nur ein paar Tauben gurrten auf den Dächern. Ein Türladen schlug klappend im Wind. Ich fröstelte.
Du musst dich jetzt zu etwas entschließen, dachte ich. Oder du gibst es eben auf. Was versprichst du dir überhaupt? Vielleicht hat es keine Bedeutung für dich, was der Kerl tut. Aber mein Gefühl riet mir, nicht abzulassen. Vielleicht war es nur Trotz. Und dann war da auch noch ein anderer Gedanke: Was wollte jemand in dieser trostlosen Gegend? Er hatte ein Ziel!
Genau genommen konnte der Mann nur einen Weg gegangen sein – durch den Torbogen mir gegenüber. Alle Türen rechts und links waren geschlossen, und die Schwellen waren mit Unkraut überwuchert, das jetzt im Winter vertrocknet war. Sicherlich hätte es Spuren gegeben, wenn eine der Türen soeben geöffnet und wieder geschlossen worden wäre. Nur die Tür, deren Flügel im Wind klappte, machte eine Ausnahme, doch der Spielraum dieser morschen Bretter war so gering, dass ein erwachsener Mann sich niemals hätte hindurchquetschen können.
Für mich wäre gerade Platz genug, dachte ich. Deshalb verwarf ich die Idee, den Torbogen zu betreten, der mich schutzlos in einen unbekannten Durchgang oder Hof geführt hätte, sondern beschloss, den seitlichen Zugang zu benutzen. Vielleicht gab mir das die Möglichkeit, aus guter Deckung einen Blick dorthin zu werfen, wohin die düstere Gestalt entschwunden war. Ich eilte zu der schlagenden Tür, drückte mit der Schulter gegen den morschen Flügel und schaffte es tatsächlich, mich hineinzuwinden. Rasch eine Treppe hinauf … und vorsichtig! Mörtel und Steinschutt lagen aufden Stufen. Sie durften nicht knirschen unter meinem Fuß! Einen
Weitere Kostenlose Bücher