Tanz der Engel
überzog sein Gesicht, seinen Hals und verschwand unter seinem schwarzen Pullover.
Raffael bemerkte meinen verstörten Blick, erkannte, dass seine Maske fiel und ich sein wahres Gesicht sehen konnte: die entstellte Fratze, die darunter verborgen lag. Doch nicht nur ich reagierte. Raffaels Pupillen weiteten sich, als stände nicht vor mir, sondern vor ihm ein Monster.
»Du kannst es sehen, obwohl ich es verhülle?! Und du verschwindest jede Nacht ins Schloss der Engel? Was haben sie aus dir gemacht?!« Raffaels Entsetzen überstieg seine Furcht. Seine Erkenntnis, dass ich nicht mehr die unschuldige Lynn war, schmerzte. Er fürchtete sich nicht nur vor mir, er lernte gerade, mich zu verabscheuen – und er würde nicht der Einzige bleiben.
Anstatt zu Aron hetzte ich die steinerne Schlosstreppe hinunter. Ich brauchte frische Luft. Meine Augen brannten mal wieder. Das Schloss erdrückte mich. Sollte Aron doch toben. Heute wollte ich niemanden mehr sehen – weder Mensch noch Engel.
Die Nacht war kalt. Ich fror. Trotzdem lief ich weiter. Ich wollte allein sein mit meinem Kummer. Wer wusste schon, was Racheengel fühlten?
Christopher fand mich dort, wo sich einst die Kapelle befand. Seine Miene war ausdruckslos, seine Stimme eisig und befehlend.
»Aron schickt mich. Ich soll dich zu ihm bringen.«
Es war nicht mein Christopher, der vor mir stand, sondern der Krieger. Er würde nicht davor zurückschrecken, mich gewaltsam ins Schloss der Engel zu bringen. Ich verzichtete darauf, ihn zu provozieren – Christopher besiegen konnte und wollte ich nicht.
Aron trainierte mich nicht, er schikanierte mich.
»Auch wenn du nur der Protegé bist, wirst du die Prüfungen nicht durchstehen, wenn du nicht bereit bist, alles zu geben. Und du bist noch so weit entfernt von einem Engel wie ein Maulwurf von einem Seeadler!« Aron lief unruhig hin und her. Er war aufgebracht, beinahe nervös. Dass ich kurz davorstand, zusammenzubrechen, entging ihm. Vielleicht war nicht ich, sondern er blind wie ein Maulwurf.
Mein Körper nahm sich die Erholung, die ihm verwehrt werden sollte. Ich verschlief den Vormittagsunterricht. Dass ich mir damit nur noch mehr Ärger einhandelte, konnte ich nicht verhindern. Frau Germann, unsere unerbittliche Schuldirektorin, verordnete mir doppelte Studierzeit, damit meine fallenden Zensuren sich wieder erholen konnten – Aron würde toben.
Er bemühte sich, Ruhe zu bewahren, verlängerte mein Training und verkürzte meine ohnehin schon knapp bemessene Schlafenszeit.
»In hundert Jahren brauchst du sowieso keinen Schlaf mehr. Vielleicht schaffst du es schneller, wenn du schon jetzt auf eine Stunde verzichtest«, meinte er.
Ich schluckte meinen Kommentar hinunter. Zum Glück musste ich bloß noch zwei Wochen durchhalten. Dann begannen die Weihnachtsferien, und ich konnte nach Hause fahren und ausschlafen – wenn auch nur über die Feiertage. Aron plante ein Intensivtraining, wofür ich eine Ferienwoche opfern sollte.
Ich sah Christopher nur noch im Internat. Er spielte weiterhin seine Rolle als mein Freund – und heimlicher Aufpasser. Er lächelte mich an, sobald er mich sah, oder legte einen Arm um meine Schultern, wenn er es für angebracht hielt. Doch sobald sich niemand in unserer Nähe befand, erschien wieder der abweisende Engel, der seiner Pflicht nachkam.
Schließlich hielt ich dieses Auf und Ab nicht länger aus und stellte ihn zur Rede. Mitten im Wald, wo niemand uns beobachten konnte, blieb ich stehen. Seine hellaufblitzenden Augen vereinfachten mir das Ganze nicht gerade, aber weiterhin so tun, als wäre alles in Ordnung, ging auch nicht – also blitzte ich zurück. Immerhin war er mir nachgelaufen und hatte mich geküsst. Wenn es hier nur ums Bewachen des neuen Racheengels ging, hätte er das niemals getan.
»Was, verdammt noch mal, habe ich falsch gemacht?!«
» Du ? Nichts. Ich war es, der dich überfordert hat. Anscheinend erträgst du es nicht, zu wissen, was ich in Wirklichkeit bin.«
Der Tiefschlag saß: Er warf mir vor, versagt zu haben – und er hatte recht. Im Verlies, als ich ihn zurückholen wollte, und auch beim Kampftraining, als ich seine Klauenhände sah und nicht stark, sondern ängstlich reagierte. Wahrscheinlich kippte ich deshalb um, wenn er mich küsste: aus Angst, dem Monster zu nahe zu kommen.
Meine Augen begannen zu brennen. Ich hasste es, meinen Gefühlen ausgeliefert zu sein. Die Furcht, sie nicht kontrollieren zu können und mich wieder in ein Monster zu
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