Tanz der Engel
Elend.
»Gib mir deine Hand. Du bist bei mir in Sicherheit«, besänftigte Aron meine flatternden Nerven.
Mein Blick begegnete dem seinen. Ehrlichkeit spiegelte sich in Arons grauen Augen. Er würde mich nicht fallen lassen. Er war für mich verantwortlich und mochte mich. Seine Gefühle würden nicht plötzlich von Liebe zu Hass umschlagen.
Meine Sicht verschwamm. Meine Augen brannten wieder. Ich schloss sie, doch es war zu spät, Aron auszusperren. Statt meine Hand berührte er mein Gesicht.
»Ist es wegen Christopher? Hattet ihr Streit?«
Ich nickte, ließ meinen Kopf hängen und begann zu erzählen. Hoch oben, in zwanzig Metern Höhe, schüttete ich Aron mein Herz aus und vertraute ihm meine größte Angst an, Christopher verloren zu haben.
»Gib ihm Zeit. Für ihn ist der Gedanke, dass ein Racheengel einen anderen Racheengel lieben könnte, genauso unvorstellbar wie für dich, einer zu werden.«
Ich schwieg. Nicht meine Schwäche, sondern mein mangelnder Glaube war der Grund meines Versagens. Aron vertraute meinen Fähigkeiten – ich nicht. Deshalb scheiterte ich. Aber nur weil ich an mir zweifelte, sollte ich mein Misstrauen nicht auf andere übertragen. Aron bot mir Hilfe an. Sie zurückzuweisen bedeutete, Sanctifer ihm vorzuziehen.
Meine Hände zitterten, doch meine Beine blieben ruhig, als ich Aron auf das Seil folgte. Er umfasste meine Handgelenke und ich seine. Der Griff versprach Halt und Sicherheit, etwas, das ich dringend brauchte. Schritt für Schritt näherte ich mich der tiefsten Stelle über dem Burggraben. Mein Herz raste, pumpte mein Blut viel zu schnell durch die Adern. Meine Finger wurden feucht. Die Verbindung zu Aron riss ab.
Noch bevor ich das Gleichgewicht verlor, steuerte er dagegen und beruhigte mich mit sanften Worten, doch für mich existierten nur noch das dünne Band und ein tiefer Abgrund.
Meine Beine verweigerten ihren Dienst. Sie knickten einfach unter mir weg. Aron fing den Sturz ab, ehe er begann. Panisch krallte ich mich an ihm fest. Dass meine Nägel ihn dabei verletzten, entging mir. Angst bestimmte mein Handeln. Ich würde fallen, niemals ein Engel werden und Christopher für immer verlieren, weil ich nicht stark genug war.
Anstatt wie ich den Kopf zwischen den Beinen zu vergraben, lief Aron ziellos in meinem Zimmer auf und ab. Seine Rastlosigkeit erinnerte mich an Christopher. Auch ihn überfiel diese Unruhe, wenn er nicht weiterwusste.
»Es wäre vernünftiger, wenn du auf deine Ferien verzichten und hierbleiben würdest.«
Mein Kopf erschien aus seiner Versenkung. Aron wollte Weihnachten streichen?! »Das ist nicht dein Ernst!«
»Doch. Jede Minute, in der du lernst, deine Angst zu überwinden, ist kostbar. Du solltest keine einzige vergeuden.«
Vergeuden? Hatte ich richtig gehört?! Er lief hier in meinem Zimmer herum, anstatt mit mir zu arbeiten, und verlangte von mir, auf meine Weihnachtsferien zu verzichten? Ich hatte sie mir nicht nur hart erarbeitet, ich brauchte sie. Zum Ausschlafen, aber vor allem, um mir klarzuwerden, was mir geblieben war.
Bemerkten meine Eltern, dass ich mich verändert hatte? Liebten sie mich noch? Konnte ich meine Eltern – meine Mutter – noch lieben? Und Christopher? Entsprang das Gefühl, das mein Herz zusammenschnürte, wenn ich ihn neben Hannah sah, nur meiner Eifersucht und meinem gekränkten Stolz? Oder verschwand auch bei mir die Fähigkeit zu lieben, wie bei allen frisch verwandelten Racheengeln, deren Fokus sich auf Dämonenkräfte konzentrierte? Christopher hatte drei Jahrhunderte gebraucht, um zu akzeptieren, dass auch er lieben konnte. Wie lange würde es bei mir dauern?
Ein Leben ohne Liebe konnte ich mir nicht vorstellen. Bevor ich das Problem mit der Höhenangst überwinden konnte, musste ich mir erst darüber klar werden, ob ich überhaupt bereit war, ein Engel zu werden.
»Übrigens, du bist morgen auch eingeladen«, verkündete Juliane mit einem überglücklichen Lächeln. Dass Raffael sie gebeten hatte, mich zu seiner Geburtstagsparty einzuladen, bedeutete für Juliane so etwas wie ein Friedensangebot von ihm an mich. Abzusagen hätte ihre Hoffnung zerstört und unsere Freundschaft gefährdet.
»Also gut. Ich komme. Aber nur, wenn du nicht sauer bist, dass ich bloß eine Stunde bleiben kann. Geo und Engel warten auf mich.«
Meinen Englisch-Versprecher interpretierte Juliane auf ihre Weise: »Angelo? Warum? Der kommt doch auch zur Party. Hast du die Diskussion nicht mitbekommen, wer ihn wie zum Tanzen
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