Tanz der Engel
Christophers Hosentasche. Dass er es heimlich aufriss, um ein paar der geruchskillenden Kräuter zwischen seinen Fingern zu zerreiben, damit die Wirkung sich verstärkte, roch selbst ich. Der Würgereiz setzte sofort ein.
Frau Schlatter brauchte länger und hatte sich schneller wieder im Griff als ich. Engel nahmen Gerüche intensiver wahr als Menschen, weshalb so ein Säckchen unter meinem Kopfkissen lag. Christophers Duft sollte mich nicht ablenken – oder mir verraten, wo er steckte.
Christopher öffnete eine der Flaschen und hielt sie Frau Schlatter unter die Nase.
»Ich glaube nicht, dass Sie einen Schluck davon probieren möchten. Man kann riechen, dass es kein Alkohol, sondern bloß abgestandenes Wasser ist.« Christopher wartete nicht auf ihre Antwort, öffnete die nächste Flasche und ließ sie daran schnuppern.
»Ja, tatsächlich. Und probieren muss ich das wirklich nicht«, wehrte sie ab. »Nichtsdestotrotz ist es verboten, Flaschen, in die normalerweise Alkohol gefüllt wird, mit ins Internat zu bringen – auch nicht zu Dekozwecken!«, erklärte sie mir. »Eine Woche Arbeitsdienst für dich, Lynn. Und sorg dafür, dass die Flaschenaus deinem Zimmer verschwunden sind, bevor ich das nächste Mal vorbeischaue.«
Mit offenem Mund starrte ich Frau Schlatter hinterher. Und was war mit Christopher? Schließlich handelte es sich um seine Flaschen. Besaß er einen Bonus und musste deshalb keinen Arbeitsdienst leisten? Wie ungerecht! Ich hatte nichts getan und wurde trotzdem bestraft.
Christopher half mir, die Flaschen zu beseitigen, bevor er mich um den See hetzte. Er sprach nicht viel. Anscheinend gab es nichts, worüber er mit mir reden wollte. Weder, warum er sich so abweisend verhielt, noch, weshalb er mir ins Schloss gefolgt war und mich dort geküsst hatte.
Ich fragte nicht nach. Auch ich konnte stur sein. Ganz davon abgesehen fürchtete ich mich vor der Wahrheit.
Kapitel 21
Freund oder Feind
L aubrechen im Wind war nicht weniger idiotisch als Schneeschippen bei heftigem Schneefall. Erneut wirbelte eine Böe die Blätter auf, die ich eben erst zusammengekehrt hatte. Sinn und Zweck dieser Übung war wohl, zu erkennen, wie schwachsinnig Arbeitsdienst sein konnte.
Damit ich meinen Strafdienst bei Tag absolvieren konnte, wurde meine Studierzeit auf den Abend verlegt. Um sicherzugehen, dass ich die nicht ausfallen ließ, musste ich unter Aufsicht lernen, was mich zwar nervte, aber nicht wirklich störte. Das Schlimme daran war, dass ich es nicht mehr schaffte, rechtzeitig ins Schloss der Engel zu wechseln, weshalb Aron mein Training forcierte. Er war sauer, obwohl er wusste, dass ich unschuldig war. So fühlte ich mich doppelt bestraft.
Seit Raffael mich erwischt hatte, achtete ich darauf, die Eingangshalle besonders sorgfältig zu kontrollieren, bevor ich unter der Treppe verschwand. Um wenigstens pünktlich zu spät zu kommen, vereinfachte ich diesmal meine Vorsichtsmaßnahmen, übersah in meiner Hektik den dunklen Schatten und lief Raffael geradewegs in die Arme.
»Na, auf dem Weg ins Schloss?«
Ich stellte mich blöd. »Ich bin doch in einem, oder ist dir das noch nicht aufgefallen?«
»Dein Versuch, mir was vorzumachen, ist ziemlich albern. Auch wenn ich den Zugang nicht nutzen kann, weiß ich doch, wo er sich befindet. Und du trägst nicht umsonst ein Engelsband.«
Noch bevor ich reagieren konnte, packte Raffael meinen Arm und schob den Ärmel meines Pullis zurück, so dass das Engelsmedaillon sichtbar wurde. Reflexartig landete mein Knie in seiner Magengrube – schließlich trainierte ich seit ein paar Wochen mit Ekin.
Raffael keuchte überrascht auf, fasste sich aber schnell wieder und drehte mir den Arm auf den Rücken. Ich entschied mich dagegen, Supergirl zu spielen, und trat nur nach hinten gegen sein Schienbein, während ich ihm meine Hand entriss.
»Beim nächsten Mal werde ich dich bei Frau Schlatter melden«, warnte ich ihn – und hoffte, dass es kein nächstes Mal geben würde. Und da ich gerade dabei war, leere Drohungen auszusprechen, setzte ich noch eine obendrauf. »Und lass meine Freunde in Ruhe. Juliane hat es nicht verdient, betrogen zu werden.«
Ein kaum wahrnehmbares Zucken an Raffaels rechtem Augenlid, das sonst nur auftauchte, wenn Christopher in seiner Nähe war, setzte ein. Kam ich wirklich so furchteinflößend rüber? Meine Wirkung auf Raffael fühlte sich alles andere als gut an. Das Zucken wurde stärker. Als ich genauer hinsah, weitete es sich aus,
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