Tanz der Engel
verwandeln, saß tief.
Christopher beobachtete jede noch so kleine Bewegung. Er war bereit, sich auf mich zu stürzen, falls ich verlor – und gerade das half mir, die Krallen einzuziehen und nicht zurückzuschlagen – was Christopher an meiner Stelle erledigte.
»Keine Sorge. Spätestens nach deiner ersten Prüfung bist du mich los!«, versprach er, bevor er weiterlief und mich einfach stehenließ.
Die Schatten des Waldes verschluckten seine Gestalt. Je weiter er sich von mir entfernte, umso fester zogen sich die eisigen Bänder um mein Herz zusammen. Christophers Entschluss stand fest. Er würde mich verlassen – und ich wusste nicht, wie ich ihn aufhalten konnte.
Ich biss die Zähne zusammen und kämpfte mich durch Arons anstrengendes Wochenendtraining. Noch fünf Tage bis zu meiner Heimreise. Alles, was mit Schule, Engeln, Sport oder Kampf zusammenhing, hatte ich so satt. An Weihnachten zu Hause bei meinen Eltern zu sein, meine Freunde zu treffen und einfach nur ich selbst sein zu dürfen war mein schönstes Weihnachtsgeschenk. Mein größter Wunsch würde sich sowieso nicht erfüllen. Christopher hatte geschworen, immer für mich da zu sein, doch das war zu einer Zeit, in der ich noch ein Mensch war – und die Zeit zurückdrehen konnte niemand.
Fast das halbe Wochenende verbrachte ich auf der Slackline. Vorwärts- oder rückwärtsgehen, stillstehen oder hüpfen: gar kein Problem. Als Aron jedoch das Band über Kopfhöhe befestigte, tauchte es wieder auf. Alles begann sich zu drehen. Wie ein Feigling klammerte ich mich an den nächstbesten Ast undließ erst los, als Aron seine Flügel ausbreitete und ich seine Hand an meiner Taille spürte.
»Sag mir, was ich mit dir machen soll!« Aron war mit seiner Weisheit am Ende. »Ich habe alles versucht, um dir die Angst vor der Höhe zu nehmen.«
»Ist das denn so wichtig?«
Aron vermied es, mich anzusehen. Offenbar hatte ich einen Nerv getroffen. »Sie werden deine Ausbildung einem anderen anvertrauen, wenn du es bis zu den Prüfungen nicht schaffst, deine Furcht zu überwinden. Ängstliche Racheengel sind nicht sehr gefragt.« Arons Augen schimmerten dunkel vor Sorge. »Vermutlich werden sie deine Ausbildung in die Hände von jemandem legen, der mehr Erfahrung besitzt als ich.«
»Jemand, der schon einmal einen Racheengel ausgebildet hat?«
Aron nickte.
»Einen, den ich kenne?« Ich brauchte die Antwort nicht abzuwarten. Mein Gefühl verriet mir, dass ich richtiglag. Nur bei dem Gedanken an einen bestimmten Engel wurde mir schlecht, während ich mich gleichzeitig wütend und machtlos fühlte. Sanctifers Einfluss reichte weit. Sollte er tatsächlich den Wunsch hegen, meine Ausbildung zu übernehmen, würde er vor nichts zurückschrecken. Mich zu unterweisen, nachdem Christopher sich ihm entzogen hatte, würde einen doppelten Sieg für ihn bedeuten: den über mich, einen Racheengel, der nicht die Stärke besaß, ihm die Stirn zu bieten, und den über Christopher, der sich auch so schon die Schuld an meinem Schicksal gab.
»Was muss ich tun?«, flüsterte ich. Die Angst, Sanctifer in die Hände zu fallen, schnürte mir die Kehle zu.
»Überwinde deine Ängste, damit du ein richtiger Engel werden kannst.« Was Aron mit richtiger Engel meinte, war klar: einen mit Flügeln.
»Und dazu muss ich über ein Hochseil klettern? Kann ich nicht einfach von einem Baum springen?« Auf diese Weise lernten Engel normalerweise das Fliegen.
»Leider nein. Engel kennen keine Höhenangst. Instinktiv wissen wir, dass unsere Schwingen uns tragen. Und genau diese Gewissheit verleiht uns die Stärke, die wir brauchen, damit unsere Flügel sich entfalten können.« – Und da ich zu schwach und zu ängstlich war, funktionierte das mit dem An-sich-glauben bei mir nicht.
»Wenn du beginnst, die Höhe zu genießen, den Wind zu fühlen und die Freiheit, bist du bereit für den Sprung in die Tiefe.«
Mein Magen reagierte sofort. Schon die Erinnerung an den Sturz verursachte mir Übelkeit.
»Wirst du … wirst du mir helfen?«, fragte ich unsicher.
»Natürlich werde ich das.«
Hilfe fühlte sich meiner Meinung nach anders an. Trotz seines Versprechens jagte Aron mich durch das Schloss. Er hatte vor, mir zu helfen, und nicht, mich zu schonen. Außer Atem kletterte ich mit ihm den Baum nach oben, wo ich mich – wie immer – an einen der Äste klammerte. Nichts hatte sich verändert. Ob ich wollte oder nicht, die Höhe machte mich zu einem ängstlich zitternden Häuflein
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