Tanz der Engel
Erinnerungsgeschenk, das ich von meinen Freundenbei meinem Abschied ins Internat bekommen hatte. Ich hatte es in dem Keller versteckt, der ins Schloss der Engel führte. Raffael musste es irgendwann geholt haben.
»Mein Geburtstagsgeschenk für dich«, sagte er nur, als er es mir beinahe schüchtern überreichte, bevor er sich umdrehte und verschwand.
Ich versuchte, nicht über seinen ungewohnten Mangel an Selbstbewusstsein nachzudenken, während ich die Stufen zu meinem Zimmer hochstieg. Dass ich in dem Kästchen nicht nur meine Erinnerungsstücke an Italien fand, überraschte mich wenig. Als ich den Zettel auf meinem Schreibtisch ausbreitete, erkannte ich schnell, dass es eine Karte dieser Gegend war. Die charakteristische Form des Sees mit der kleinen, herzförmigen Insel und die Stelle, an der das Internatsschloss stand, waren deutlich zu erkennen – ebenso die Markierung bei der Kirche auf der anderen Seite des Sees. An sie grenzte der Engelseelensee, wo Sanctifer mir die Kehle aufgeschlitzt hatte. Und nicht weit davon entfernt lag der Mühlenteich. Dort endete der Weg aus dem Reich der Totenwächterin.
Ich betrachtete die rot markierte Stelle genauer. Tunnel zum Schloss der Engel stand mit Tinte geschrieben daneben. Ein sehnsuchtsvolles Kribbeln erwachte in meiner Brust – ich bemühte mich, es zu ignorieren. Sorgfältig riss ich die Karte in kleine Stückchen, holte Streichhölzer und steckte sie in Brand. Die Asche blies ich zum Dachfenster hinaus.
Dass Sanctifer mir helfen wollte herauszufinden, wo Christopher steckte, schied aus. Es musste einen anderen Grund geben, warum er versuchte, mich ins Schloss der Engel zu lotsen – doch so leicht ließ ich mich nicht manipulieren. Aber vielleicht wollte Sanctifer mir auch nur etwas zeigen. Etwas, das mir nicht gefallen würde: Christopher, der mich vergessen hatte, weil er mit einer anderen zusammen war.
Ein eisiges Band legte sich um mein Herz. Der Gedanke, abzureisen,ohne nach dem Tunnel gesucht zu haben, und stattdessen meine Ängste auf einen vierwöchigen Kanadatrip mitzunehmen, fegte meine Zweifel beiseite. Sollte es wirklich einen zweiten Zugang geben, konnte ich ja jederzeit umkehren. Außerdem hatte Aron, mein einstiger Engelstutor, mir gedroht, mich aufzuhalten, falls ich noch mal im Schloss der Engel aufkreuzen würde. Einem Engel, den ich fragen konnte, was mit Christopher passiert war, würde ich demnach auf jeden Fall begegnen. Ganz abgesehen davon wollte ich den Dolch loswerden, bevor ich das Internat verließ.
Beim Frühstück erzählte ich Marisa und Juliane, dass ich seit meinem Drachenunfall Angst vor dem Fliegen hätte und deshalb einen Beruhigungslauf um den See machen wollte. Ich wusste, dass beide ihre Koffer noch nicht gepackt hatten und nur im äußersten Notfall bereit waren, die elf Kilometer freiwillig zu laufen.
In Sportklamotten und Turnschuhen joggte ich los, den Dolch in seiner verzierten Scheide unter einem weitgeschnittenen Shirt mit Klebestreifen an meinem Bauch befestigt. Ich lief am Südufer des Sees entlang und fiel in einen gleichmäßigen Trab, der mich tatsächlich ein wenig beruhigte. Die Waffe eines Engels unter dem Herzen zu tragen, fühlte sich beängstigend an. Zumal sie eine Narbe an meiner Kehle hinterlassen hatte, die auch Christopher nicht heilen konnte.
Der grün schimmernde Mühlenteich lag friedlich neben der alten Wassermühle. Nichts deutete darauf hin, dass ein Tunnel aus einer anderen Welt hier endete. Ich drosselte mein Tempo, umrundete die Kirche mit ihrem angrenzenden Friedhof und begann am Fuß des Hügels nach dem Zugang zu suchen. Da es nichts gab außer Gestrüpp und hohem Gras, widmete ich mich der Kirche.
Auch hier fand ich keinen Hinweis. Weder in dem aus Findlingen gemauerten Glockenturm noch in dem mit einem bemerkenswertschönen Altarbild geschmückten Kirchenraum – genauso wenig, wie unter dem Altar. Genervt verließ ich das Gebäude.
Was wollte Sanctifer von mir? Mich zur Verzweiflung treiben? Und in Raffaels Arme? Der hatte sich in den letzten Wochen außerordentlich höflich verhalten – wenn ich die Chance verpasst hatte, ihm aus dem Weg zu gehen. Was mir, sobald mir wieder einfiel, was er ertragen musste, jedes Mal ein wenig schwerer fiel.
Noch einmal umrundete ich den Friedhof. Ich hätte schwören können, dass der Efeu an der Kirchmauer, als ich vorher hier vorbeigelaufen war, dichter wuchs. Die kleine, hölzerne Luke entdeckte ich jedenfalls erst jetzt.
Vorsichtig
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