Tanz der Engel
verschwand ich unter dem Blättervorhang. Der Verschlag ließ sich problemlos öffnen. Schnell schlüpfte ich hinein. Dämmerlicht empfing mich, als die Tür hinter mir zuschwang, doch jemand hatte vorgesorgt. Eine dicke, weiße Kirchenkerze lag vor mir, samt Streichhölzern. Ich zündete sie an und tastete mich unter der massiven Gewölbedecke einen schmalen Gang entlang.
Es roch modrig. Und nach Pulver. Tausend Staubkörner rieselten auf mich herab und hüllten mich in einen pudrigen Nebel. Ein eisiges Gefühl durchzog meinen Körper, tausendmal intensiver als in den Katakomben. Meine innere Stimme riet mir umzudrehen – mein Herz beschwor mich weiterzulaufen.
Die Luft wurde feuchter. Der Tunnel führte zum See hinunter – was ich mir schon gedacht hatte. Der Mühlenteich war ein unbequemer Zugang, die Luke wesentlich komfortabler. Längst vergessener Ärger wallte in mir auf. Warum hatte Aron mich nach meiner Flucht aus dem Totenreich durch den Teich geschickt, wenn es einen einfacheren Weg gab? Hasste er mich, weil ich einen Engel liebte? Wollte er mich für mein Vergehen bestrafen? Oder demütigen?
Je näher ich dem Reich der Totenwächterin kam, umso aufgewühlter war ich. Vielleicht sollte ich den Dolch einfach dort ablegen, wo ich mich gerade befand. Irgendjemand würde ihn schon finden. Allerdings konnte das auch die Totenwächterin oder einer ihrer Lakaien sein, und in ihren Händen wollte ich eine Waffe, an der vielleicht noch mein Blut klebte, nicht wissen.
Also lief ich weiter durch den modrigen, mit Pfützen und kleinen Tümpeln durchzogenen Tunnel, obwohl ich mich bei jedem Schritt unsicherer fühlte. Doch es war nicht nur die Furcht vor der Totenwächterin und ihren satanischen Helfern, die in mir erwachte. Je tiefer der Tunnel nach unten führte, umso schneller wuchs meine Wut: Auf meinen angeblich so perfekten Schutzengel, der mich im Stich gelassen hatte. Auf Christopher, weil er nicht aufgetaucht war, und auf Sanctifer, dem ich es zu verdanken hatte, dass ich in die Machenschaften der Engelswelt verstrickt worden war.
Mein Herz klopfte ängstlich und wütend zugleich, als ich den tiefsten Punkt des Tunnels erreichte. Ganz in der Nähe musste die Pforte sein, durch die ich dem Totenreich entkommen war. Unweigerlich lief ich schneller. Unter keinen Umständen wollte ich Aufmerksamkeit erregen.
Außer Puste rannte ich die Stufen am Ende des Tunnels nach oben. Atemlos betrat ich einen kleinen, mit brennenden Ölschalen erhellten Raum, roch den Duft von Meer und wilden Kräutern und blickte in die zornfunkelnden grauen Augen von Aron.
»Was. Tust. Du. Hier?!«
Vor Schreck ließ ich die Kerze fallen. Sie erlosch.
»Habe ich dir nicht deutlich genug geschildert, was dich erwartet, falls du noch mal nach Christopher suchen solltest?«
Das hatte er. Meiner Erinnerung nach hatte er gedroht, mir zuerst die Zunge auszureißen und danach meine Gliedmaßen,bevor er mich vierteilen, köpfen und – falls es da noch etwas gab, das lebte – bei lebendigem Leib verbrennen wollte. Oder so etwas in der Art. Vorsichtshalber wich ich einen Schritt zurück.
»Was willst du?«, herrschte Aron mich an. Seine Augen nahmen einen ähnlich dunklen Farbton an wie seine lässig verwuschelten Haare. Ich hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Eigenartigerweise wirkte sein Zorn nicht abschreckend, sondern ansteckend und addierte sich zu der Wut, die ich ohnehin schon in mir trug.
»Ich wollte wissen, ob mit Christopher alles in Ordnung …« Ich verstummte, als ein übler Verdacht in mir aufkeimte. Aron war der Meinung, dass ich nicht die Richtige für Christopher war. Er hielt mich für schwach – für zu menschlich, um einem Racheengel zu genügen. »Er … er ist im Schloss, nicht wahr?«
»Das hat dich nichts anzugehen.« Drohend kam Aron näher.
Ich blieb standhaft. Er würde mir nichts tun – hoffte ich zumindest.
»Ach nein?! Nachdem er aller Welt erzählt hat, dass er mein Freund ist?«
»Anscheinend ist er zur Vernunft gekommen.«
»Oder wurde dazu gebracht!« Raffaels Geschichte über das Engelsgericht erschien mir auf einmal mehr als plausibel.
»Beides läuft auf dasselbe hinaus«, erklärte Aron von oben herab.
Säure schoss mir in den Magen – und ins Blut. »Wie kannst du akzeptieren, dass einem Freund von dir so etwas angetan wird?«
Arons bedrohliche Körperhaltung veränderte sich ein wenig. Mein Vorwurf überraschte ihn, doch er fing sich schnell wieder.
»Christopher trifft seine
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