Tanz der Hexen
erst die Mühe, es anderen zu erklären. Und jetzt war Michael Curry ganz allein in diesem Haus, und Rowan war verschwunden, der Himmel wußte, wohin – das Kind, das einst zu seinem eigenen Wohl geraubt und verschleppt worden und wieder heimgekehrt war, um irgendeinem Fluch anheimzufallen…
Ryan hatte in einem Augenblick der Unbesonnenheit einmal gesagt: »Weißt du, Gifford, es gibt im Leben nur zwei Dinge, auf die es ankommt – Familie und Geld. Und das ist es eigen t lich. Sehr, sehr reich zu sein, wie wir es sind, und seine Fam i lie um sich zu haben.«
Wie hatte sie da gelacht. Es mußte um den fünfzehnten April herum gewesen sein, und er hatte gerade seine Einkommensteuererklärung abgegeben. Aber sie hatte gewußt, was er meinte. Sie konnte nicht malen, nicht tanzen, nicht singen, nicht musizieren. Und Ryan auch nicht. Ihre ganze Welt bestand aus Familie und Geld. Das galt für alle Mayfairs, die sie kannte. Die Familie war nicht bloß die Familie: Sie war Clan, Nation, Religion, Obsession.
Ein Leben ohne sie hätte ich nicht führen können, dachte sie und formte die Worte mit dem Mund, wie sie es gern hier draußen tat, wo der Wind, der vom Wasser her wehte, alles verschluckte, und wo das konturlose Tosen der Wellen ihr das beschwingte Gefühl gab, sie könne, ja, solle tatsächlich si n gen.
Und Mona wird ein gutes Leben haben! Mona wird aufs Co l lege gehen, wo sie will! Mona kann bleiben oder fortgehen. Sie wird wählen können. Es gab keinen geeigneten Cousin, den Mona heiraten könnte, oder? Aber natürlich gab es einen. Zwanzig würden ihr einfallen, wenn sie nachdächte, aber das tat sie nicht. Entscheidend war, daß Mona Freiheiten haben würde, die Gifford nie gehabt hatte. Mona war stark. Gifford hatte Träume, in denen Mona immer sehr stark war und Dinge tat, die niemand sonst tun konnte; sie ging beispielsweise oben auf einer hohen Mauer entlang und sagte: »Beeil dich, Tante Gifford.« Einmal hatte Mona in einem Traum auf der Tragfläche eines Flugzeugs gesessen und eine Zigarette g e raucht, während sie durch die Wolken flogen, und Gifford hatte sich starr vor Entsetzen an eine Strickleiter geklammert.
Am Strand blieb sie ganz still stehen und legte den Kopf zur Seite. Der Wind wehte ihr das Haar fest ums Gesicht und b e deckte ihre Augen. Sie schwebte fast; der Wind hielt sie au f recht. Ah, so schön das alles, dachte sie, so hinreißend schön. Und Ryan kam, um sie nach Hause zu holen. Ryan würde hier sein. Vielleicht war Rowan durch irgendein Wunder noch am Leben! Rowan würde nach Hause kommen! Alles würde sich aufklären, und das große, glänzende Wunder von Rowans erster Heimkehr würde von neuem zu leuchten beginnen.
Ja, laß dich niedersinken und schlafe im Sand. Träume davon. Denke an Clancys Kleid. Du mußt ihr mit dem Kleid helfen. Ihre Mutter versteht nichts von Kleidern.
War jetzt Aschermittwoch?
Im Licht des klaren Himmels konnte sie ihre Uhr nicht erkennen. Auch der Mond half nicht, obwohl er so hell aufs Wasser schien. Aber in den Knochen spürte sie, daß die Fastenzeit begonnen hatte. Die Fastnacht war vorüber.
Aber sie mußte ins Haus. Ryan hatte gesagt, sie solle ins Haus gehen, alles abschließen und die Alarmanlage einscha l ten. Sie wußte, sie würde es tun, weil er es gesagt hatte. Manchmal nachts, wenn sie wirklich wütend auf ihn war, dann schlief sie am Strand, sicher und frei unter den Sternen, wie eine Wanderin. An diesem Strand war man ganz allein mit dem ältesten Teil der bekannten Welt: mit dem Sand und dem Meer. Man konnte sich in jeder beliebigen Epoche befinden. In jedem beliebigen Buch, in biblischen Landen, im Atlantis der Legende. Aber heute würde sie tun, was Ryan sagte. Um Go t tes willen, sie durfte nicht hier draußen schlafen, wenn er k ä me! Er würde toben vor Wut!
Ach, wenn er doch jetzt hier wäre.
An dem Abend vor einem Jahr, als Deirdre gestorben war, da war Gifford mit einem Schrei aufgewacht, und Ryan hatte sie in den Arm genommen. »Jemand ist gestorben«, hatte sie geweint, und er hatte sie festgehalten. Erst beim Klingeln des Telefons hatte er sie wieder losgelassen. »Deirdre. Es ist Deirdre.«
Würde sie eine solche Ahnung auch haben, wenn Rowan wir k lich etwas zustieße? Oder war Rowan zu weit weg von der Herde? War sie schon auf irgendeine grausige und schäbige Weise gestorben, vielleicht schon wenige Stunden nach ihrem Verschwinden? Nein, anfangs waren ja noch Briefe und Botschaften von ihr gekommen. Alle
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