Tanz der Hexen
fünfzehn gewesen, und sie waren sehr verliebt gewesen, sie und Ryan. Nein, man nahm einer Mutter nicht einfach das Baby weg, was immer man sich dabei dac h te. Deirdre hatten sie in den Wahnsinn getrieben, und Onkel Cortland hatte versucht, dem ein Ende zu machen.
Natürlich hätte Gifford sich besser um Mona kümmern können. Zum Teufel, jeder hätte sich besser um Mona kümmern kö n nen als Alicia und Patrick. Und auf ihre Art hatte Gifford sich auch immer um Mona gekümmert, ganz wie sie sich auch um ihre eigenen Kinder gekümmert hatte.
Das Feuer war heruntergebrannt. Die Kälte wurde allmählich ein ganz klein wenig unbehaglich. Sie fachte es besser wieder an. Viel Schlaf brauchte sie nicht mehr. Wenn sie irgendwann gegen zwei eindöste, würde sie frisch sein, wenn Ryan käme. Das war ein Vorteil, wenn man sechsundvierzig war. Man brauchte nicht mehr soviel Schlaf.
Sie ließ sich vor dem breiten Steinkamin auf die Knie nieder, nahm ein kleines Eichenholzscheit von dem säuberlichen St a pel daneben und warf es auf die schwache Glut. Zeitungsp a pier, zusammengeknüllt, und ein paar Späne – und schon flammte es wieder auf, züngelnd und lodernd vor den rußg e schwärzten Ziegelsteinen.
Dann stand sie im Wohnzimmer und schaute über den weißen Strand hinaus. Jetzt hörte sie die Wellen überhaupt nicht mehr. Der Wind hatte den schweren Vorhang der Stille über alles gezogen. Die Sterne leuchteten hell wie am Jüngsten Tag. Und die pure Reinheit des Windes war so köstlich, daß sie am liebsten geweint hätte.
So gern wäre sie geblieben, bis das alles zuviel würde. Bis sie sich nach den Eichen von Zuhause sehnte. Aber das war noch nie passiert. Sie war immer abgereist, bevor sie es wirklich gewollt hatte. Pflichtgefühl, Familie – irgend etwas hatte sie immer gezwungen, von Destin nach Hause zu fahren, bevor sie dazu bereit war.
Das sollte nicht heißen, daß sie die Spinnweben und die alten Eichen nicht liebte, die zerbröckelnden Mauern, die schiefen Stadthäuser und rissigen Gehwege, die entzückenden, endlosen Umarmungen ihrer Verwandten und Verwandten und Verwandten. Doch, sie liebte das alles, aber manchmal wollte sie auch einfach weg.
Und hier war sie weg.
Es schauderte sie. »Ich wünschte, ich könnte sterben«, flüsterte sie. Ihre zitternde Stimme verwehte im Luftzug. Sie ging in die offene Küche, ließ Wasser in ein Glas laufen und trank es aus. Dann ging sie durch die offene Glastür hinaus in den Garten, die Stufen hinauf, auf dem Holzsteg über die kleine Düne hinaus und hinunter auf den saubergewehten Sandstrand.
Jetzt hörte man den Golf. Das Geräusch erfüllte einen. Es gab nichts anderes auf der Welt. Der Wind riß einen los von allem anderen, los von allem Empfinden. Als sie zurückschaute, sah das Haus täuschend klein und unbedeutend aus, eher wie ein Bunker als wie ein hübsches kleines Häuschen hinter der sa n digen Böschung.
Gifford fröstelte es; der Wind schüttelte sie plötzlich, als habe er die Fäuste geballt und versuche nun, sie grob zur Seite zu stoßen. Sie ging dagegen an zum Wasser hinunter, und ihr Blick war starr auf die sanfte Brandung gerichtet, deren Wellen kaum auf den glitzernden Strand heraufleckten. Gern hätte sie sich hingelegt und geschlafen. Als kleines Mädchen hatte sie das getan. Nirgends war ein Strand so sicher wie hier an di e ser unbekannten Bucht bei Destin, wo keine Buggies oder sonst welche Fahrzeuge je herkamen und einen mit ihren R ä dern oder ihrer Scheußlichkeit oder ihrem Lärm verletzen konnten.
Wer war dieser Dichter noch, der vor langer Zeit am Strand bei Fire Island ums Leben gekommen war? Im Schlaf überfahren, glaubte man, obwohl niemand es genau wußte. Schreckliche Sache, ganz schrecklich. Sie konnte sich nicht an seinen N a men erinnern. Nur an seine Gedichte. College-Zeiten, Bier. Ryan, der sie an Deck des Vergnügungsdampfers küßte und ihr versprach, sie aus New Orleans wegzubringen. Was für Lügen! In China würden sie leben! Oder war es Brasilien g e wesen? Ryan war dann sofort in die Firma Mayfair und Mayfair eingetreten, und sie hatte ihn mit Haut und Haaren ve r schluckt, noch vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag. Sie fragte sich, ob er sich jetzt noch an ihre Lieblingsdichter eri n nern konnte – an D. H. Lawrences Gedicht über den blauen Enzian, das sie so sehr geliebt hatten, oder an Wallace St e vens’ »Sunday Morning«.
Aber sie konnte ihm deswegen keine Vorwürfe machen. Sie hatte nicht
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