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Tanz der Hexen

Tanz der Hexen

Titel: Tanz der Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Dann bat er Yuri, ihm noch einmal vom Palast des Maharadscha zu erzählen. Die Anw e senheit des Vaters bekümmerte Yuri. Aber er verbannte sie aus seinem Bewußtsein. Dieser Mann lag im Sterben. Und sein Vater rief nicht einmal einen Arzt! Er bestand nicht darauf! Was, in Gottes Namen, stimmte nicht mit diesem Vater, daß er sich nicht um seinen Sohn kümmerte? Aber wenn Andrew die Geschichte noch einmal hören wollte – schön.
    Er erinnerte sich, wie seine Mutter einmal mit einem sehr alten deutschen Freund viele Tage lang im Hotel Danielli gewohnt hatte. Als eine ihrer Freundinnen sie gefragt hatte, wie sie e i nen so alten Mann ertragen könne, hatte sie gesagt: »Er ist gut zu mir, und er stirbt. Ich würde alles tun, um es ihm leicht zu machen.« Und Yuri erinnerte sich an den Ausdruck in ihren Augen, als sie schließlich in dem elenden Dorf angekommen waren und die Zigeuner ihr gesagt hatten, daß ihre eigene Mutter inzwischen gestorben sei.
    Und Yuri erzählte alles über den Maharadscha. Er erzählte von seinen Elefanten und ihren wunderschönen Sätteln aus rotem, goldbetreßtem Samt. Er erzählte von seinem Harem, in dem Yuris Mutter die Königin gewesen war. Er erzählte von einer Schachpartie zwischen ihm und seiner Mutter, die fünf Jahre gedauert hatte, ohne daß einer gewonnen hätte; dabei hatten sie an einem reich drapierten Tisch unter einem Mangrovenbaum gesessen. Er erzählte von seinen kleinen Geschwistern und von einem zahmen Tiger an einer goldenen Kette.
    Andrew schwitzte schrecklich. Yuri ging ins Bad, um einen Waschlappen zu holen, aber der Mann öffnete sogleich die Augen und rief nach ihm. Yuri hastete zurück und wischte dem Mann die Stirn und dann das ganze Gesicht ab. Der Vater rührte keinen Finger. Was, zum Teufel, stimmte nicht mit diesem Vater?
    Andrew versuchte Yuri mit der linken Hand zu berühren, aber anscheinend konnte er diese Hand jetzt auch nicht mehr b e wegen. Yuri verspürte jähe Panik. Mit festem Griff erfaßte er die Hand und strich mit den Fingern über sein Gesicht, und er sah, wie der Mann lächelte.
    Etwa eine halbe Stunde später schlief der Mann ein. Und dann starb er. Yuri beobachtete ihn. Er sah, wie es geschah. Die Brust hörte auf, sich zu bewegen. Die Augenlider öffneten sich einen kleinen Spaltbreit. Dann nichts mehr.
    Yuri warf einen Blick zum Vater hinüber. Der saß da und hatte den Blick starr auf den Sohn gerichtet. Yuri wagte nicht, sich zu bewegen.
    Endlich trat der Vater zum Bett und schaute auf Andrew herab; dann beugte er sich nieder und küßte Andrew auf die Stirn. Yuri war verblüfft. Keinen Arzt holen, aber ihn jetzt küssen, dachte er erbost. Er spürte, wie sein eigenes Gesicht sich ve r zog, er wußte, daß er gleich weinen würde, und er konnte nichts dagegen tun. Und plötzlich weinte er.
    Er ging ins Bad, putzte sich die Nase mit Toilettenpapier und nahm eine Zigarette aus der Tasche; er klopfte sie auf dem Handrücken fest, steckte sie in den Mund und zündete sie an, obwohl seine Lippen zitterten. In hastigen, aber genüßlichen Zügen rauchte er, während die Tränen seinen Blick umwölkten.
    Im Zimmer hinter der Tür herrschte großer Aufruhr. Menschen kamen und gingen. Yuri lehnte sich an die weißen Kacheln und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Bald hörte er auf zu weinen. Er trank ein Glas Wasser, stand mit verschränkten Armen da und dachte: Ich sollte mich verdrücken.
    Den Teufel würde er tun und diesen Mann um Hilfe bitten. Er würde warten, bis der Trubel dort drinnen ein Ende hätte, und dann würde er sich verdrücken. Wenn ihn jemand zur Rede stellte, würde er sich eine raffinierte kleine Ausrede einfallen lassen und verschwinden. Kein Problem. Überhaupt kein Problem. Vielleicht würde er Rom ganz verlassen.
    »Vergiß das Bankschließfach nicht«, sagte der Vater.
    Yuri erschrak. Der weißhaarige Mann stand in der Tür. Das Zimmer hinter ihm schien leer zu sein. Andrews Leichnam war nicht mehr da.
    »Wie meinen Sie das?« fragte Yuri auf italienisch. »Was reden Sie da?«
    »Deine Mutter hat es dir hinterlassen – das Fach mit dem Paß deines Vaters und dem Geld. Sie wollte, daß du es b e kommst.«
    »Aber ich habe den Schlüssel nicht mehr.«
    »Dann gehen wir zur Bank. Wir erklären alles.«
    »Ich will nichts von Ihnen!« antwortete Yuri wütend. »Ich komme gut allein zurecht.« Er wollte sich an dem Mann vo r beidrücken, aber der faßte ihn bei der Schulter, und der Griff seiner Hand war

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