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Tanz der Hexen

Tanz der Hexen

Titel: Tanz der Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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folgend. »Er sagt, er will keinen Arzt. Jawohl, Sir, er wird hier bleiben.« Yuri nannte die Zimmernummer. »Ich werde dafür sorgen, daß er ißt.« Yuri beschrieb den Zustand des Mannes, so gut er konnte, während der Mann zuhörte. Er beschrieb auch die mutmaßlichen Lähmungen. Er merkte, daß der Vater vor Sorgen wie von Sinnen war; er würde die nächste Maschine nach Rom nehmen.
    »Ich will versuchen, ihn zu überreden, daß er einen Arzt ko m men läßt. Jawohl, Sir.«
    »Danke, Yuri«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. Und wieder wurde Yuri klar, daß er auch diesem Mann nicht gesagt hatte, wie er hieß. »Bitte bleib bei ihm«, sagte der Fremde. »Ich werde kommen, sobald ich kann.«
    »Keine Sorge«, sagte Yuri. »Ich gehe nicht weg.«
    Als er aufgelegt hatte, trug er die Diskussion, die er geführt hatte, sogleich noch einmal vor.
    »Keinen Arzt«, beharrte Andrew. »Wenn du den Hörer abnimmst und einen Arzt rufst, springe ich aus dem Fenster. Hörst du? Keinen Arzt. Dafür ist es viel zu spät.«
    Yuri war sprachlos. Ihm war, als müsse er gleich in Tränen ausbrechen. Er erinnerte sich, wie seine Mutter gehustet hatte, als sie zusammen im Zug nach Serbien gesessen hatten. Warum hatte er sie nicht gezwungen, einen Arzt zu rufen? Warum nicht?
    »Sprich mit mir, Yuri«, sagte der Mann. »Erfinde Geschichten. Oder erzähl mir von ihr, wenn du willst. Erzähl mir von deiner Mutter. Ich sehe sie vor mir. Ich sehe ihr schönes schwarzes Haar. Ein Arzt hätte ihr nicht mehr helfen können, Yuri. Das wußte sie. Sprich mit mir, bitte.«
    Ein leises Frösteln überlief Yuri, als er dem Mann in die Augen schaute. Er wußte, daß er seine Gedanken lesen konnte. Y u ris Mutter hatte ihm von Zigeunern erzählt, die so etwas kon n ten. Yuri selbst hatte diese Begabung nicht. Seine Mutter hatte behauptet, sie zu haben, aber Yuri hatte es nicht geglaubt. Er hatte nie einen echten Beweis dafür gesehen. Er fühlte einen tiefen Schmerz, als er an sie dachte, wie sie im Zug gesessen hatte, und gern hätte er geglaubt, daß es für einen Arzt zu spät gewesen war, aber er würde es niemals sicher wissen. Diese Einsicht betäubte ihn und ließ ihn ganz still werden, i n nerlich schwarz und kalt.
    »Ich werde Ihnen Geschichten erzählen, wenn Sie etwas frü h stücken«, sagte er. »Ich bestelle Ihnen etwas Warmes.«
    Der Mann starrte lustlos vor sich hin und lächelte dann. »Also gut, kleiner Mann. Wie du meinst. Aber keinen Arzt. Und, Yuri, wenn ich nicht mehr sprechen sollte, merk dir eins: Laß dich nicht von den Zigeunern einfangen. Bitte meinen Vater, dir zu helfen… wenn er kommt.«
    Der Vater kam erst am Abend.
    Yuri war gerade mit dem Mann im Badezimmer, und der Mann übergab sich in die Toilette und klammerte sich dabei an Yuris Hals, um nicht umzufallen. In dem Erbrochenen war Blut. Yuri hatte große Mühe, ihn festzuhalten; der Gestank des Erbrochenen bereitete ihm Übelkeit, aber er ließ den Mann nicht los. Dann blickte er auf und sah die Gestalt des Vaters, weißha a rig, aber nicht sehr alt, und offensichtlich reich. Neben ihm stand ein Hotelpage.
    Ah, das ist also der Vater, dachte Yuri, und für einen Augenblick durchströmte ihn heiß eine lautlose Wut; dann aber fühlte er sich seltsam lustlos und bewegungsunfähig.
    Wie gepflegt dieser Mann aussah mit seinem dichten, welligen weißen Haar, und was für schöne Kleider er hatte. Er kam herein, faßte seinen Sohn bei den Schultern, und Yuri wich zurück. Der junge Page half mit, und sie legten Andrew auf das Bett.
    Andrew streckte in panischer Hast die Hände nach Yuri aus und rief seinen Namen.
    »Ich bin hier, Andrew«, sagte Yuri. »Ich lasse Sie nicht allein. Keine Angst. Aber jetzt lassen Sie Ihren Vater einen Arzt r u fen, bitte, Andrew. Tun Sie, was er sagt.«
    Er setzte sich neben den Kranken, zog ein Knie an, nahm die Hand des Mannes und schaute ihm ins Gesicht. Der Stoppe l bart des Kranken war dichter geworden, rauh und bräunlich, und sein Haar roch nach Schweiß und Fett. Yuri hatte Mühe, nicht zu weinen.
    Würde der Vater ihm Vorwürfe machen, weil er keinen Arzt gerufen hatte? Er wußte es nicht. Der Vater redete mit dem Pagen. Dann ging der Page, und der Vater setzte sich in einen Sessel und schaute seinen Sohn nur an. Er wirkte nicht traurig oder beunruhigt, nur auf eine milde Art besorgt. Er hatte freundliche blaue Augen und Hände mit großen Knöcheln und dicken blauen Adern. Alte Hände.
    Andrew döste eine ganze Weile.

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