Tanz der Kakerlaken
ein Geheimnis, so rätselhaft wie die Tatsache, daß jede Knackerlake mit dem ganzen Wissen geboren wird, das sie benötigt, um bis zu ihrem Westen über die Runden zu kommen.
Als die Uhr bei seinen heftigen Mühen mithalf, die Schale seines Ostereis zu sprengen, und er sich allein mit fünfzehn toten Geschwistern auf dem Boden der Uhr wiederfand, hatte er keine Mutter, die sich um ihn kümmerte. Sie war irgendwo unten oder in einem anderen Teil des Parthenon, wo seine Säuglingsschreie sie nicht erreichen konnten. Keine Knackerlakenmutter kennt den Augenblick, in dem sich ihr Osterei öffnen wird, es sei denn, sie hält unaufhörlich Wacht. Das tun die wenigsten.
Er war allein und hungrig und verstand seine Umgebung nicht: die rotierenden, ineinandergreifenden Zahnräder und das schwingende Pendel, die klappernde Zahnstange, die ruckende Unruhscheibe und die tickende Hemmung. Er hielt die Uhr für seine Mutter, aber ihre Mechanismen entsprachen nicht recht seinem genetischen Gedächtnis, und als er versuchte, mit ihr in ihrer Sprache zu reden – mit schnell dahinklackernden Verben, ratternden Adjektiven und trommelnden Substantiven, mit klirrenden Kommas, sirrenden Punkten und dröhnenden Ausrufezeichen, gab sie ihm keine Antwort. Als sie »FONDUE!« sagte, sprach er ihr ganz genau nach, aber sie ignorierte ihn. Drei Tage lang blieb er hungrig. Sein makelloses Weiß der ersten Nacht, das ihm Angst einflößte, als wäre er sein eigener Geist, ging über ins Bernsteinfarbene und wurde dann zu Braun. Er durchstreifte die ganze Länge des Kaminsimses, überaus eingeschüchtert von der großen Höhe. Er spielte mit dem Gedanken, eins seiner toten Geschwister zu essen, denn nichts ist für eine Knackerlake delikater als ein verwesteter Embryo, aber irgendwie begriff er, daß dieser sicher schmackhafte Bissen seine Schwester war.
Eines Abends (er zog sich in die dunkelste Ecke der Uhr zurück, sobald das geringste Licht zu sehen war) erblickte er die Frau. Sie stand vor dem Kaminsims, nahe genug, daß seine Schnüffelruten heißhungrig entdeckten, was Sie in den Händen hielt – in der einen ein Glas Milch und in der anderen einen Choco-Crossie, diese fabelhafte Leckerei aus Cornflakes und Schokolade. Er wußte, Sie mußte seine Mutter sein, obwohl Sie noch weniger nach einer Knackerlakenmutter aussah als die Uhr. Er empfand eine überwältigende Sohnesliebe für Sie, nicht nur wegen der Nahrung, die Sie ihm brachte, sondern vor allem wegen Ihrer großen Schönheit; die goldenen Wellen Ihres Haares flossen über Ihre Schultern, die so weiß waren wie vor kurzem noch sein eigener Leib; die unübertreffliche Lieblichkeit Ihres Gesichts, die Anmut, mit der Sie sich bewegte, die süßen Töne, mit der Sie Wörter erschuf – »Also, ist heute Freitag oder Samstag? Ach ja, ich glaube, heut' ist Samstag.«
Der kleine Sam wiederholte die Worte: »Ach ja, ich glaube, heut' ist Samstag.« Aber Sie ignorierte ihn, wie vorher die Uhr. Sie sah ihn nicht einmal. Und Sie gab ihm auch nichts von dem Essen ab. Sie stellte das Glas auf den Kaminsims und öffnete plötzlich das Glastürchen vor dem Zifferblatt der Uhr. Er zog sich erschrocken tiefer ins Schattendunkel zurück. Mit der Hand, mit der Sie die Milch gehalten hatte, richtete Sie die Uhr und mit der anderen, der mit dem Choco-Crossie, steckte Sie einen Schlüssel in das Zifferblatt und fing an, die Uhr aufzuziehen. Die Uhr gab daraufhin neue Geräusche von sich, die Sam noch nie gehört hatte, das Kratzen des Schlüssels, das leise Knarren der Feder, die sich spannte.
Sie drehte und drehte den Schlüssel, und ein winziges Krümchen des Choco-Crossies in Ihrer Hand bröckelte ab und fiel auf den Boden der Uhr.
Dieses winzige Stückchen Choco-Crossie bot dem kleinen Sam eine ganze Woche lang Nahrung, bis seine wahre Mutter auftauchte, ihn aus der Uhr hinunter in die Welt hinaus führte und sich daran machte, ihm all die Dinge zu erklären, die er nicht verstand.
Sie erklärte ihm, daß bestimmte Dinge »sich nicht gehören«. Zum Beispiel gehörte es sich nicht, sein Essen zu erbrechen, während andere zusahen. »Schling dein Essen in dich rein, aber kotz im stillen Kämmerlein«, lautete einer ihrer Grundsätze. Obwohl es in Ordnung ist, von Ausscheidungen aus dem Vorderende als »Kotze« zu sprechen, ist es nicht in Ordnung, von Ausscheidungen aus dem Hinterende in den zahlreichen obszönen Wörtern zu sprechen, die viele Knackerlaken, vor allem männliche, täglich mit
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