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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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zeigen«, brach es plötzlich böse aus ihr heraus. Die angetrunkene, spöttische, herausfordernde Genugtuung war nicht mehr zu verkennen, als sie linkisch, höhnisch, mit ausgebreitetem Rock dastand. »Ich habe zu Hause einen Pullover aus Kaschmirimitat. Hat mich zwölf Dollar gekostet«, sagte sie. »Ich habe einen Pelzmantel, auf den ich anzahle, für den nächsten Winter. Ich habe einen Pelzmantel …«
    »Wie schön«, sagte ich. »Ich finde es immer wunderbar, wenn andere was besitzen.«
    Sie ließ den Rock los und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Es war eine Erleichterung für mich, für uns beide. Wir spürten, dass wir die ganze Zeit auf einen Streit zugesteuert waren. Wir standen einander argwöhnisch gegenüber, beide angetrunken, sie straffte sich, um mich wieder zu ohrfeigen, ich machte mich bereit, sie zu packen oder zurückzuschlagen. Wir wollten es austragen, das, was wir gegeneinander hatten. Aber der Augenblick dieser Heftigkeit ging vorüber. Wir stießen den Atem aus; wir hatten uns nicht rechtzeitig bewegt. Und im nächsten Augenblick, ohne uns damit aufzuhalten, unsere Feindschaft abzuschütteln oder daran zu denken, dass eines zum anderen führen konnte, küssten wir uns. Für mich war es das erste Mal, dass es ohne Vorbedacht oder Zögern oder Übereile oder die übliche anschließende vage Enttäuschung zu einem Kuss kam. Und dann, an mich gelehnt und zittrig lachend, fing sie wieder an zu reden, kehrte zum ersten Teil unserer Unterhaltung zurück, als sei inzwischen nichts geschehen.
    »Ist es nicht komisch?«, sagte sie. »Weißt du, den ganzen Winter über tun alle Mädchen nichts anderes als über den letzten Sommer zu reden, sie reden und reden über diese Jungs, und dabei wette ich mit dir, dass die Jungs sogar schon vergessen haben, wie die Mädchen hießen …«
    Aber ich wollte nicht mehr reden, denn ich hatte in ihr eine andere Kraft entdeckt, die neben ihrer Feindseligkeit lag und genauso umfassend und unpersönlich war. Nach einer Weile flüsterte ich: »Gibt es hier nichts, wo wir hinkönnen?«
    Und sie antwortete: »Auf dem nächsten Feld steht eine Scheune.«
    Sie kannte die Gegend; sie war schon mal hier.
    Wir fuhren nach Mitternacht in die Stadt zurück. George und Adelaide schliefen auf dem Rücksitz. Ich glaubte nicht, dass Lois schlief, obwohl sie nichts sagte und ihre Augen geschlossen waren. Ich hatte irgendwo von omne animal gelesen und wollte es ihr sagen, aber dann dachte ich, sie wird kein Latein können und wird denken, ich bin – ach, ein überheblicher Klugscheißer. Hinterher wünschte ich, ich hätte es ihr gesagt. Sie hätte gewusst, was es bedeutet.
    Hinterher die Mattigkeit des Körpers und die Kälte; die Trennung. Die Heuschnipsel abstreifen und sich mit schwerfälligen Bewegungen wieder herrichten, aus der Scheune treten und sehen, der Mond ist untergegangen, aber die Stoppelfelder sind noch da, die Pappeln und die Sterne. Und das eigene Ich, fröstelnd und durcheinander, das sich auf diese ungestüme Reise begeben hat, es ist auch noch da. Zum Auto zurückgehen und die anderen schlafend auf dem Rücksitz vorfinden. Ja, das ist: triste. Triste est .
    Diese ungestüme Reise. War es, weil es das erste Mal war, weil ich betrunken war, zwar nur wenig, aber seltsam betrunken? Nein. Es war wegen Lois. Es gibt Menschen, die beim Liebesakt nur ein Stück weit gehen können, und andere, die sehr weit gehen können, die sich hingeben können wie die Mystiker. Und Lois, diese Mystikerin der Liebe, saß jetzt so weit wie möglich von mir fort, sah kalt und zerknittert aus und hattesich völlig in sich selbst zurückgezogen. All die Dinge, die ich ihr sagen wollte, klapperten hohl durch meinen Kopf. Dich wiedersehen … Nicht vergessen … Liebe  … nichts davon konnte ich sagen. Über die Kluft hinweg, die sich zwischen uns aufgetan hatte, würde alles noch nicht einmal halb wahr klingen. Ich dachte: Vor dem nächsten Baum, dem nächsten Telegraphenmast werde ich etwas zu ihr sagen. Aber ich tat es nicht. Ich fuhr lediglich schneller, zu schnell, und zwang die Stadt herbei.
    Die Straßenlaternen erblühten aus den dunklen Bäumen vor uns; auf dem Rücksitz regte sich etwas.
    »Wie spät ist es?«, fragte George.
    »Zwanzig nach zwölf.«
    »Wir müssen diese Flasche ausgetrunken haben. Ich fühle mich nicht besonders. Oh Gott, ich fühle mich gar nicht besonders. Wie fühlst du dich?«
    »Gut.«
    »Gut, ja? Fühlst dich, als hättest du heute Abend

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