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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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wahrscheinlich bloß die Zeit«, sagte er mit bemühter Heiterkeit. Das war eine Prüfung, und ich bestand sie nicht. Ich lächelte, den Blick auf die prächtige Pflanze geheftet; ich antwortete ausweichend.
    »Ich dachte gerade an den Burschen, der vor Ihnen hier drin war. Ein Chiropraktiker. Über den könnte man ein ganzes Buch schreiben.«
    Ich nahm eine zuhörende Haltung ein und ließ die Hände von der Tür. Wenn Feigheit und Unaufrichtigkeit zu meinen größten Untugenden gehören, dann ist Neugier bestimmt eine weitere.
    »Er hatte sich hier eine gute Praxis aufgebaut. Das Problem war bloß, er hat mehr zurechtgebogen, als in den Lehrbüchern der Chiropraktiker steht. Der hat so einiges zurechtgebogen. Ich bin hier reingekommen, nachdem er ausgezogen ist, und was meinen Sie, wasich gefunden habe? Alles schalldicht! Das ganze Zimmer hier war schalldicht, damit er die Leute zurechtbiegen konnte, ohne jemanden zu stören. Genau das Zimmer hier, in dem Sie sitzen und Ihre Geschichten schreiben.«
    »Wir haben erst davon erfahren, als eines Tages eine Dame an meine Tür geklopft hat und von mir den Schlüssel für seine Praxis wollte. Er hatte ihretwegen seine Tür abgeschlossen.«
    »Ich nehme an, er hatte genug von der Sonderbehandlung für sie. Er dachte wohl, jetzt hatte er sie lange genug hergenommen. Eine Dame vorgerückten Alters, und er noch ein junger Mann. Hatte auch eine nette junge Frau und zwei Kinder, so hübsch, wie man sie sich nur wünschen kann. Ekelhaft, was auf dieser Welt so vor sich geht.«
    Ich brauchte einige Zeit, bis ich begriff, dass er mir diese Geschichte nicht einfach als ein bisschen Klatsch und Tratsch erzählt hatte, sondern als etwas, das für jemanden, der schrieb, besonders interessant sein musste. Schreiben und Lüsternheit waren für ihn vage miteinander verbunden. Aber diese Vorstellung schien einem so infantilen Wunschdenken zu entspringen, dass es mir wie eine Kraftverschwendung vorkam, mich dagegen zu verwahren. Außerdem wusste ich jetzt, dass ich es vermeiden musste, ihn zu verletzen, und zwar meinetwegen, nicht seinetwegen. Es war eingroßer Fehler gewesen, zu denken, ein wenig Grobheit würde für Ruhe sorgen.
    Das nächste Geschenk war eine Teekanne. Ich erklärte, dass ich nur Kaffee trank, und bat ihn, sie seiner Frau zu schenken. Er sagte, Tee sei besser für die Nerven und er habe gleich gewusst, dass ich ein nervöser Mensch sei, genau wie er. Die Teekanne war vergoldet und mit Rosen bedeckt, und ich wusste, dass sie nicht billig war, trotz ihrer extremen Hässlichkeit. Ich behielt sie auf meinem Tisch. Ich pflegte auch die Pflanze, die in der Ecke meines Zimmers schamlos gedieh. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, etwas anderes zu tun. Er kaufte mir einen Papierkorb, einen schmuckvollen mit chinesischen Mandarinen auf allen acht Seiten; er besorgte ein Schaumgummikissen für meinen Stuhl. Ich verachtete mich dafür, dass ich mir diese Erpressung gefallen ließ. Ich hatte nicht einmal Mitleid mit ihm; ich konnte mich nur nicht verweigern, ich konnte mich diesem kriecherischen Hunger nicht verweigern. Und er wusste selbst, dass meine Toleranz erkauft war; in gewisser Weise muss er mich dafür gehasst haben.
    Wenn er sich jetzt in meinem Büro aufhielt, erzählte er mir Geschichten über sich selbst. Mir kam der Gedanke, dass er mir sein Leben anvertraute, weil er hoffte, ich würde es niederschreiben. Natürlich hatteer es wahrscheinlich etlichen Leuten aus keinem besonderen Grund anvertraut, aber in meinem Fall schien es dafür einen dringenden, geradezu zwingenden Grund zu geben. Sein Leben war eine Abfolge von Katastrophen, wie es das Leben vieler Menschen ist; er war von Bekannten enttäuscht worden, denen er vertraut hatte, auf die er sich verlassen hatte, war sogar von Freunden verraten worden, denen er nur Gutes getan hatte. Andere Menschen, Fremde, Leute auf der Durchreise, hatten sich die Zeit genommen, ihn auf neuartige und einfallsreiche Weise grundlos zu quälen. Mehr als einmal war sogar sein Leben bedroht gewesen. Darüberhinaus stellte seine Frau eine Belastung dar, denn sie kränkelte und war sehr stimmungsabhängig; aber was sollte er machen? Sie sehen ja, wie es ist, sagte er mit erhobenen Händen, aber ich lebe. Er sah mich an, damit ich ihm zustimmte.
    Ich verfiel darauf, die Treppe auf Zehenspitzen hinaufzuschleichen und den Schlüssel möglichst geräuschlos umzudrehen; das war natürlich Quatsch, denn meine Schreibmaschine ließ sich

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