Tanz der seligen Geister (German Edition)
war, suchte Leona auf. Er sagte ihr, dass sie gerade das Programm für ein großes Konzert und einen Tanzabend drüben in Rockland zusammenstellten, und er hätte gerne Patricia dabei, wenn es nicht zu früh sei nach allem, was passiert war. Leona sagte, sie müsse sich bedenken. Sie stand vom Bett auf und ging hinunter. Patricia saß mit einer ihrer Illustrierten auf dem Sofa. Sie hielt den Kopf gesenkt.
Schöne Haare hast du auf dem Kopf, sagte Leona. Ich sehe, du hast sie selber aufgedreht. Hol mir den Kamm und die Bürste!
Zu ihrer Schwägerin sagte sie: Was ist das Leben? Man muss weitermachen.
Sie ging ins Stadtzentrum und kaufte Noten, zwei Lieder: Möge der Ring nie zerbrechen und Es ist kein Geheimnis, was Gott vermag. Patricia musste sie lernen und sang diese beiden Lieder bei dem Konzert in Rockland. Die Leute im Zuschauerraum fingen an zu flüstern, denn sie hatten von Benny gelesen, es hatte in der Zeitung gestanden. Sie zeigten auf Leona, die sich fein gemacht hatte und auf dem Podest saß, sie hielt den Kopf gesenkt und weinte. Einige Leute im Publikum weinten auch. Patricia weinte nicht.
In der ersten Novemberwoche (und es hatte nicht geschneit, es hatte immer noch nicht geschneit) kam derScherenschleifer mit seinem Karren die Straße entlanggelaufen. Die Kinder spielten draußen und hörten ihn kommen; als er noch weit fort war, hörten sie seinen unverständlichen Singsang, traurig und schrill und so seltsam, dass man meinen konnte, ein Irrer liefe frei herum, wenn man nicht gewusst hätte, dass es der Scherenschleifer war. Er trug denselben fleckigen braunen Mantel mit dem ausgefransten Saum, denselben kaputten Filzhut wie immer; er kam die Straße herunter mit seinen Rufen, und die Kinder rannten in die Häuser, um Messer und Scheren zu holen, oder sie rannten auf die Straße und riefen aufgeregt: Der alte Brandon, der alte Brandon (denn so hieß er).
Vor dem Haus der Parrys fing Patricia an zu schreien: Ich hasse den alten Scherenschleifer! Ich hasse ihn!, schrie sie. Ich hasse den alten Scherenschleifer, ich hasse ihn! Sie schrie und stand stockstill, ihr Gesicht sah ganz weiß und runzelig aus. Die schrillen, zittrigen Schreie riefen Leona und die Nachbarn herbei; sie zerrten sie, immer noch schreiend, ins Haus. Sie brachten nicht aus ihr heraus, was mit ihr los war; sie dachten, sie musste eine Art von Anfall haben. Ihre Augen waren fest geschlossen, und ihr Mund stand weit auf; ihre winzigen spitzen Zähne waren fast durchsichtig und an den Rändern ein wenig angefault; mit diesen Zähnen sah sie aus wie ein Frettchen, ein elendes kleines Tier, rasend vor Wut oder Angst. DieFrauen schüttelten sie, schlugen sie, schütteten ihr kaltes Wasser ins Gesicht; schließlich gelang es ihnen, ihr eine große Dosis Schmerzsirup mit viel Whisky drin einzuflößen, und sie brachten sie zu Bett.
Diese Göre von Leona ist ja ein Prachtstück, sagten die Nachbarinnen zueinander, als sie nach Hause gingen. Diese Sängerin , sagten sie, denn jetzt war alles wieder normal und ihre Abneigung gegen Leona so stark wie zuvor. Sie lachten finster und sagten: Tja, dieser angehende Filmstar. Steht vorm Haus und brüllt, man könnte denken, sie hat den Verstand verloren.
Da stand dieses Haus, und daneben die übrigen Holzhäuser, die nie angestrichen worden waren, mit ihren steilen, geflickten Dächern und den schmalen, schiefen Veranden, Holzrauch stieg aus ihren Schornsteinen, und blasse Kindergesichter drückten sich an die Fensterscheiben. Hinter den Häusern kam der Streifen Erde, hier und da umgepflügt, anderswo mit Gras bewachsen, voller Steine, und dahinter kamen die Kiefern, nicht sehr hoch. Vor den Häusern lagen die kleinen, toten Gärten, die graue Straße, die aus der Stadt führte. Der Schnee kam, fiel langsam, gleichmäßig, zwischen der Straße und den Häusern und den Kiefern, fiel anfangs in großen Flocken und dann in immer kleineren, die nicht schmolzen auf den harten Furchen, der steinernen Erde.
Tag des Schmetterlings
Ich weiß nicht mehr, wann Myra Sayla in die Stadt kam, obwohl sie schon zwei oder drei Jahre lang in meiner Schulklasse gewesen sein muss. Ich kann mich erst im letzten Jahr an sie erinnern, als ihr kleiner Bruder Jimmy in die erste Klasse ging. Jimmy Sayla war es noch nicht gewohnt, allein auf die Toilette zu gehen, und so musste er an die Tür der sechsten Klasse klopfen und nach Myra fragen, die ihn dann hinunterbrachte. Sehr oft erreichte er Myra nicht rechtzeitig,
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