Tanz der seligen Geister (German Edition)
und in seiner kleinen, angeknöpften Baumwollhose war ein großer, dunkler Fleck. Dann musste Myra die Lehrerin fragen: »Darf ich bitte meinen Bruder nach Hause bringen, er hat in die Hose gemacht.«
Das sagte sie beim ersten Mal, und alle, die vorn saßen, hörten es – obwohl Myra nur im zartesten Singsang sprach – und brachen in unterdrücktes Gekicher aus, das den Rest der Klasse wachrüttelte. Unsere Lehrerin, eine kalte, sanfte junge Frau mit Goldrandbrille, die in manchen Posen steifer Zugewandtheit einer Giraffe ähnelte, schrieb etwas auf einen Zettel und zeigte ihn Myra. Und Myra las unsicher vor: »Meinem Bruder ist ein Missgeschick passiert, bitte, Frau Lehrerin.«
Alle wussten von Jimmy Saylas Schande, und in dergroßen Pause (wenn er nicht nachsitzen musste, weil er wieder einmal etwas in der Schule Verbotenes getan hatte) traute er sich nicht auf den Schulhof hinaus, wo die anderen kleinen Jungen und auch einige größere auf ihn warteten, um ihn an den hinteren Zaun zu jagen und dort mit Zweigen zu verdreschen. Er musste bei Myra bleiben. Aber auf unserem Schulhof gab es zwei Seiten, die Jungsseite und die Mädchenseite, und es herrschte die Überzeugung, wenn man auch nur einen Schritt auf die Seite tat, die nicht die eigene war, drohte eine Tracht Prügel. Jimmy konnte nicht hinaus auf die Mädchenseite, und Myra konnte nicht hinaus auf die Jungsseite, und niemand durfte im Gebäude bleiben, außer es regnete oder schneite. Also verbrachten Myra und Jimmy alle großen Pausen damit, auf der kleinen Veranda zwischen den beiden Seiten zu stehen. Vielleicht sahen sie zu, wie Baseball, Zeck und Hopse gespielt wurden, wie im Herbst Laubhäuser und im Winter Schneefestungen gebaut wurden; vielleicht sahen sie überhaupt nicht zu. Wann immer man zu ihnen hinüberschaute, waren ihre Köpfe gesenkt, ihre schmalen Körper zusammengekrümmt, völlig reglos. Sie hatten lange, glatte, ovale Gesichter, melancholisch und verschlossen, und dunkle, fettig glänzende Haare. Die des kleinen Jungen waren lang, offenbar zu Hause geschnitten, und Myra trug ihre zu dicken Zöpfen geflochten, die auf dem Kopf zusammengerollt waren, so dass sievon Ferne aussah, als trüge sie einen viel zu großen Turban. Beide hatten dunkle Augen, die von den Lidern nie ganz freigegeben wurden; ihr Blick war müde. Aber da war noch mehr. Sie wirkten wie Kinder auf einem mittelalterlichen Gemälde, sie wirkten wie kleine, holzgeschnitzte Figuren für den Hausaltar oder für bösen Zauber, mit glatten, uralten Gesichtern, sanft, rätselhaft und unzugänglich.
Die meisten Lehrer an unserer Schule unterrichteten schon lange und hatten die Angewohnheit, in der großen Pause im Lehrerzimmer zu verschwinden, ohne uns zu behelligen. Aber unsere Klassenlehrerin, die junge Frau mit der dünnen Goldrandbrille, beobachtete uns häufig von einem Fenster aus und kam manchmal heraus, mit energischer und ungemütlicher Miene, um die kleinen Mädchen, die miteinander rauften, zu trennen und die großen, die die Köpfe zusammensteckten, zu einem Laufspiel anzutreiben. Eines Tages kam sie heraus und rief: »Mädchen der sechsten Klasse, ich möchte euch sprechen!« Sie lächelte auffordernd und ernsthaft, dabei aber peinlich berührt, und die schmalen Goldeinfassungen ihrer Zähne waren zu sehen. Sie sagte: »In der sechsten Klasse ist ein Mädchen namens Myra Sayla. Sie ist doch in eurer Klasse, nicht wahr?«
Wir murmelten etwas. Aber Gladys Healey krähte: »Ja, Miss Darling.«
»Aha, und warum spielt ihr dann nie mit ihr? Jeden Tag sehe ich sie auf der Veranda stehen und nie spielen. Meint ihr, sie sieht sehr glücklich aus dahinten? Meint ihr, ihr wärt sehr glücklich, wenn ihr dahinten allein wärt?«
Niemand antwortete; wir standen vor Miss Darling, alle respektvoll, artig und gelangweilt von der Realitätsferne ihrer Frage. Dann sagte Gladys: »Myra kann nicht zu uns rauskommen, Miss Darling. Myra muss auf ihren kleinen Bruder aufpassen!«
»Ach«, sagte Miss Darling unschlüssig. »Aber ihr solltet euch bemühen, netter zu ihr zu sein. Meint ihr nicht? Wie? Also ihr werdet euch Mühe geben, netter zu sein, ja? Da bin ich mir sicher.« Die arme Miss Darling! Ihre Feldzüge kamen immer rasch zum Stillstand, aus gutem Zureden wurden weinerliche und unsichere Bitten.
Als sie fort war, sagte Gladys Healey leise: »Also ihr werdet euch Mühe geben, netter zu sein, ja? Da bin ich mir sicher!«, dann entblößte sie ihre großen Zähne und
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