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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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johlte ausgelassen: »Ob’s nun regnet oder schneit.« Sie sang die ganze Strophe und beendete sie mit einem spektakulären Wirbel ihres Schottenrocks im Royal-Stuart-Muster. Mr. Healey besaß ein Geschäft für Textilien und Damenbekleidung, und dass seine Tochter die Anführerin in unserer Klasse war, lag zum Teil an ihren auffallenden Schottenröcken und Organdyblusenund Samtjacken mit Messingknöpfen, aber auch an ihrem frühreifen Busen und der schieren, brutalen Kraft ihrer Persönlichkeit. Nun fingen wir alle an, Miss Darling nachzuahmen.
    Davor hatten wir Myra nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Aber jetzt entwickelten wir ein Spiel; es begann mit dem Spruch: »Seien wir nett zu Myra!« Dann gingen wir zu dritt oder viert auf sie zu und sagten auf ein Zeichen im Chor: »Hal-lo, Myra, hallo My-ra!«, und danach so etwas wie: »Worin wäschst du dir die Haare, Myra, die glänzen so hübsch, My-ra.« – »Ach, sie wäscht sie bestimmt in Lebertran, nicht wahr, Myra, sie wäscht sie in Lebertran, riecht ihr das nicht?«
    Und um die Wahrheit zu sagen, Myra roch wirklich, aber es war ein süßlicher Geruch wie von verfaulendem Obst. Die Saylas hatten nämlich einen kleinen Obstladen. Myras Vater saß den ganzen Tag lang auf einem Schemel neben dem Schaufenster, aus dem offenstehenden Hemd quoll sein dicker Bauch hervor, und schwarze Haarbüschel umrandeten seinen Bauchnabel; er kaute Knoblauch. Aber wenn man in den Laden hineinging, erschien von hinten Mrs. Sayla, um einen zu bedienen, kam schweigend zwischen den schlaffen, bunt bedruckten Vorhängen hervor. Ihre Haare waren zu schwarzen Wellen onduliert, und sie lächelte mit geschlossenem Mund, die vollen Lippen so weit wie möglich auseinandergezogen; sie nannte einem den Preismit leiser, schnappender Stimme, die einen herausforderte, ihr zu widersprechen, und wenn man es nicht tat, überreichte sie einem die Obsttüte mit offenem Spott in den Augen.
    Eines Morgens im Winter ging ich sehr früh die Anhöhe zur Schule hinauf; ein Nachbar hatte mich in seinem Fahrzeug mitgenommen. Ich wohnte etwa eine halbe Meile außerhalb der Stadt, auf einer Farm, und ich hätte gar nicht auf die städtische Schule gehen sollen, sondern auf eine ländliche Schule ganz in der Nähe, wo ein halbes Dutzend Schüler von einer Lehrerin unterrichtet wurde, die nach ihren Wechseljahren ein wenig den Verstand verloren hatte. Aber meine Mutter, die eine ehrgeizige Frau war, hatte die Stadtverwaltung dazu überredet, mich anzunehmen, und meinen Vater dazu, das Mehr an Schulgeld aufzubringen, und so ging ich in die städtische Schule. Ich war die Einzige in der Klasse, die ein Provianteimerchen mitbrachte und in dem hohen, kahlen, senffarbenen Umkleideraum Erdnussbuttersandwiches aß, die Einzige, die im Frühjahr, wenn die Straßen verschlammt waren, Gummistiefel tragen musste. Deswegen fühlte ich mich ständig ein wenig in Gefahr, ohne jedoch genau zu wissen, worin diese Gefahr bestand.
    Ich sah Myra und Jimmy vor mir auf der Anhöhe; sie gingen immer sehr früh zur Schule – manchmal so früh,dass sie draußen stehen und warten mussten, bis der Hausmeister die Tür öffnete. Sie gingen langsam, hin und wieder drehte Myra sich halb um. Ich hatte oft so getrödelt, weil ich mit einem wichtigen Mädchen gehen wollte, das hinter mir war, und weil ich mich nicht ganz traute, stehenzubleiben und zu warten. Mir kam der Gedanke, Myra könnte das jetzt mit mir machen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich konnte es mir nicht leisten, mit ihr gesehen zu werden, und ich mochte auch gar nicht mit ihr gehen – doch andererseits ließ mich die Schmeichelei dieser demütigen, hoffnungsvollen Zuwendungen nicht kalt. Eine Rolle formte sich für mich, der ich nicht widerstehen konnte. Ich spürte ein starkes, angenehmes Aufwallen selbstbewusster Wohltätigkeit; bevor ich darüber nachdenken konnte, was ich tat, rief ich: »Myra! He, Myra, bleib stehen, ich hab Popcorn!«, und beschleunigte meine Schritte, als sie stehenblieb.
    Myra wartete, aber sie sah mich nicht an; sie wartete in der starren und in sich gekehrten Haltung, die sie immer uns gegenüber einnahm. Vielleicht dachte sie, ich wollte ihr einen Streich spielen, vielleicht erwartete sie, ich würde an ihr vorbeilaufen und ihr eine leere Popcornschachtel ins Gesicht werfen. Und ich machte die Schachtel auf und hielt sie ihr hin. Sie nahm ein wenig. Jimmy verkroch sich hinter ihrem Mantel und wollte nichts nehmen, als ich ihm die

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