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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Schachtel anbot.
    »Er ist schüchtern«, sagte ich ermutigend. »Viele kleine Kinder sind so schüchtern. Das wird sich schon irgendwann geben.«
    »Ja«, sagte Myra.
    »Ich habe einen vier Jahre alten Bruder«, sagte ich. »Er ist schrecklich schüchtern.« Was nicht stimmte. »Nimm noch etwas Popcorn«, sagte ich. »Ich hab früher dauernd Popcorn gegessen, aber jetzt nicht mehr. Ich glaube, es ist schlecht für den Teint.«
    Ein Schweigen entstand.
    »Magst du Kunst?«, fragte Myra leise.
    »Nein. Ich mag Gesellschaftskunde und Rechtschreibung und Gesundheit.«
    »Ich mag Kunst und Rechnen.« Myra konnte schneller im Kopf addieren und multiplizieren als alle anderen in der Klasse.
    »Ich wünschte, ich wäre so gut wie du. Im Rechnen«, sagte ich und kam mir großzügig vor.
    »Aber ich bin nicht so gut in Rechtschreibung«, sagte Myra. »Ich mache die meisten Fehler. Ich werde vielleicht sitzenbleiben.« Sie klang nicht unglücklich darüber, aber froh, dass sie so etwas sagen konnte. Dabei hielt sie den Kopf von mir abgewandt und starrte auf die schmutzigen Schneehaufen entlang der Victoria Street, und beim Sprechen machte sie ein Geräusch, als führe sie sich mit der Zunge über die Lippen.
    »Du wirst schon nicht sitzenbleiben«, sagte ich. »Dubist zu gut im Rechnen. Was willst du mal werden, wenn du groß bist?«
    Sie sah ratlos aus. »Ich werde meiner Mutter helfen«, sagte sie. »Und im Laden arbeiten.«
    »Also ich werde Stewardess«, sagte ich. »Aber sag das nicht weiter. Ich hab’s nicht vielen gesagt.«
    »Mach ich nicht«, sagte Myra. »Liest du in der Zeitung Steve Canyon?«
    »Ja.« Es kam mir sonderbar vor, dass auch Myra die Comics las oder überhaupt etwas außerhalb der Schule tat. »Liest du Rip Kirby?«
    »Liest du Annie, das Waisenkind?«
    »Liest du Betsy und die Jungs?«
    »Du hast kaum was von dem Popcorn gegessen«, sagte ich. »Nimm noch was. Eine ganze Handvoll.«
    Myra sah in die Schachtel. »Da ist ein Preis drin«, sagte sie. Sie zog ihn heraus. Es war eine Brosche, ein kleiner Blechschmetterling, golden angestrichen und mit bunten Glasstückchen beklebt, die wie Edelsteine aussehen sollten. Sie hielt sie in ihrer braunen Hand und lächelte ein wenig.
    Ich fragte: »Gefällt sie dir?«
    Myra sagte: »Ich mag die blauen Steine. Blaue Steine sind Saphire.«
    »Ich weiß. Saphir ist mein Monatsstein. Was ist dein Monatsstein?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Wann hast du Geburtstag?«
    »Im Juli.«
    »Dann ist deiner Rubin.«
    »Saphir mag ich lieber«, sagte Myra. »Ich mag deinen.« Sie gab mir die Brosche.
    »Behalt sie«, sagte ich. »Finderlohn.«
    Myra hielt sie mir weiter hin, als wüsste sie nicht, was ich meinte. »Finderlohn«, sagte ich.
    »Es war dein Popcorn«, sagte Myra ängstlich und ernst. »Du hast es gekauft.«
    »Aber du hast sie gefunden.«
    »Nein …«, sagte Myra.
    »Mach schon!«, sagte ich. »Da, ich schenke sie dir.« Ich nahm die Brosche und drückte sie ihr in die Hand.
    Wir waren beide überrascht. Wir sahen uns an; ich wurde rot, doch Myra nicht. Als unsere Finger sich berührten, wurde mir das Gelöbnis bewusst; es machte mir Angst, aber, ach was! Ich dachte, ich kann ja auch an anderen Tagen früher kommen und mit ihr gehen. Ich kann ja in der großen Pause rübergehen und mit ihr reden. Warum nicht? Warum nicht?
    Myra steckte die Brosche in ihre Tasche. Sie sagte: »Ich kann sie an meinem guten Kleid tragen. Mein gutes Kleid ist blau.«
    Was mir nicht neu war. Myra trug ihre guten Kleider in der Schule auf. Sogar mitten im Winter, zwischen den karierten Wollröcken und den Kammgarnjacken,schimmerte sie traurig in himmelblauem Taft, in staubigem türkisgrünem Krepp, dem umgearbeiteten Kleid einer erwachsenen Frau, das mit einer großen Schleife am Dekolleté beladen war und über Myras schmaler Brust leere Falten schlug.
    Und ich war froh, dass sie die Brosche nicht ansteckte. Wenn jemand sie gefragt hätte, woher sie die hatte, und sie hätte es erzählt, was hätte ich dann sagen sollen?
    Am Tag danach oder in der Woche danach kam Myra nicht zur Schule. Sie blieb öfter mal zu Hause, weil sie aushelfen musste. Aber diesmal kam sie nicht wieder. Eine Woche, zwei Wochen lang blieb ihr Pult leer. Dann hatten wir in der Schule Umzugstag, und Myras Bücher wurden aus ihrem Pult genommen und in den Klassenschrank gepackt. Miss Darling sagte: »Wir werden schon einen Platz für sie finden, wenn sie zurückkommt.« Und sie hörte auf, Myras Namen aufzurufen,

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