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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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blühen die Kinder wie Blumen. Gott brauchte noch eine Blume, und er nahm dein Kind, Schwester, du solltest ihm danken und froh sein.
    Die anderen Frauen hörten beklommen zu, wenn diese beiden sprachen; auf ihre Gesichter trat bei solchen Worten ein Ausdruck von verlegenem, kindlichem Ernst. Sie kochten Tee und stellten alles auf den Tisch, den englischen Kuchen, das Teegebäck und die Obstkuchen, die Nachbarn vorbeigebracht hatten oder die sie selbst gebacken hatten. Niemand aß etwas, denn Leona mochte nichts essen. Viele der Frauen weinten, aber nicht die beiden von der Heilsarmee. Allie McGee weinte. Sie war korpulent, mit friedfertigem Gesicht und mächtigem Busen; sie hatte keine Kinder. Leona zog unter der Decke die Knie hoch, schaukelte weinend vor und zurück, warf den Kopf vor und dann in den Nacken (wobei, was einigen der Frauen mit einem gewissen Schamgefühl auffiel, die Schmutzfalten an ihrem Hals zu sehen waren). Dann wurde sie still und sagte, gleichsam überrascht: Ich habe ihn gestillt, bis er zehn Monate alt war. Der war so brav, man hat gar nicht gemerkt, dass er im Haus ist. Ich habe immer gesagt, das ist das beste Kind, dass ich je hatte.
    In der dunklen, überheizten Küche spürten die Frauen die Würde dieses Kummers in ihrem mütterlichen Fleisch, sie waren demütig vor dieser ungewaschenen, unbeliebten und trostlosen Leona. Wenn Männer hereinkamen – der Vater, ein Vetter, ein Nachbar – und eine Ladung Brennholz brachten oder kleinlaut nach etwas zu essen fragten, dann spürten sie sofort etwas, das sie ausschloss, das sie tadelte. Sie gingenhinaus und sagten zu den anderen Männern: Die sind immer noch zugange. Und der Vater, der inzwischen angetrunken und streitsüchtig war, denn er spürte, dass etwas von ihm erwartet wurde, dem er nicht gewachsen war, es war ungerecht, sagte: Das nutzt dem Benny gar nichts, und wenn sie sich die Augen ausheulen.
    George und Irene hatten ihr Ausschneidespiel gespielt und schnitten Anziehsachen aus dem Katalog. Sie hatten schon die Familie aus dem Katalog geschnitten, die Mutter, den Vater und die Kinder, und schnitten jetzt die Kleidungsstücke für sie aus. Patricia sah ihnen dabei zu und sagte: Schaut bloß mal, wie ihr ausschneidet! Schaut mal das viele Weiß um die Ränder rum! Wie sollen die Sachen denn dranbleiben, ihr habt ja nicht mal was zum Umkniffen ausgeschnitten. Sie nahm die Schere und schnitt sehr säuberlich aus, ohne irgendetwas Weißes an den Rändern zu lassen; ihr blasses, pfiffiges kleines Gesicht war zur Seite geneigt, ihr Mund zusammengekniffen. Sie machte alles wie eine Erwachsene; sie tat nie nur so als ob. Vor Leuten singen war für sie kein Spiel, außerdem wollte sie Sängerin werden, wenn sie groß war, vielleicht im Film oder vielleicht im Radio. Sie sah sich gerne Filmzeitschriften an und Zeitschriften mit Abbildungen von Kleidern und Zimmern; sie schaute auch gern in die Fenster von einigen der Häuser im Villenviertel.
    Benny versuchte, aufs Sofa zu klettern. Er griff nach dem Katalog, und Irene schlug auf seine Hand. Er fing an zu greinen. Patricia hob ihn geschickt hoch und trug ihn ans Fenster. Sie stellte ihn zum Hinausschauen auf einen Stuhl und sagte: Wauwau, Benny, sieh mal, Wauwau … Es war Mundys Hund, der aufstand, sich schüttelte und die Straße hinunterlief.
    Wauwau, sagte Benny fragend, legte die Hände an die Scheibe und beugte sich vor, um zu sehen, wohin der Hund lief. Benny war achtzehn Monate alt, und die einzigen Wörter, die er sagen konnte, waren Wauwau und Brem. Brem war für den Scherenschleifer, der manchmal vorbeikam; er hieß Brandon. Benny erinnerte sich an ihn und rannte immer hinaus, wenn er ihn sah. Andere Kleinkinder, die erst dreizehn oder vierzehn Monate alt waren, wussten mehr Wörter als Benny und konnten mehr machen, wie Winkewinke und Händeklatschen, und die meisten sahen auch niedlicher aus. Benny war lang und dünn und knochig, und sein Gesicht war wie das seines Vaters – blass, dumpf, erwartungslos; es fehlte nur die schmutzige Mütze. Aber er war brav; stundenlang stand er am Fenster, sah hinaus und sagte Wauwau, Wauwau, mal leise fragend, mal zärtlich, und strich mit den Händen über die Fensterscheibe. Er mochte es, wenn man ihn, obwohl er so lang war, wie ein kleines Baby auf die Arme nahm; dann lag er da, sah hoch und lächelte, einwenig furchtsam oder argwöhnisch. Patricia wusste, dass er dumm war; sie hasste alles, was dumm war. Er war das einzige dumme Ding,

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