Tanz der seligen Geister (German Edition)
wenn sie die Anwesenheitsliste verlas.
Jimmy Sayla kam auch nicht mehr zur Schule, da er niemanden hatte, der ihn auf die Toilette brachte.
In der vierten oder fünften Woche, seit Myra fehlte, kam Gladys Healey in die Schule und sagte: »Wisst ihr schon – Myra Sayla liegt im Krankenhaus.«
Und das stimmte. Denn Gladys hatte eine Tante, die Krankenschwester war. Mitten in der Rechtschreibstunde hob Gladys den Finger und meldete es MissDarling. »Ich dachte nur, Sie wüssten es gern«, sagte sie. »Oh, ja«, sagte Miss Darling. »Ich weiß davon.«
»Was hat sie denn?«, fragten wir Gladys.
Und Gladys sagte: »Akemie oder so was. Und sie bekommt Bluttransfusionen.« Zu Miss Darling sagte sie: »Meine Tante ist nämlich Krankenschwester.«
Also gab Miss Darling der ganzen Klasse zur Aufgabe, Myra einen Brief zu schreiben, in dem es dann hieß: »Liebe Myra, wir schreiben Dir alle zusammen einen Brief. Wir hoffen, dass es Dir bald bessergeht und Du wieder zur Schule kommst, liebe Grüße …« Und Miss Darling sagte: »Ich habe mir etwas überlegt. Wer würde gern ins Krankenhaus gehen und Myra am zwanzigsten März zum Geburtstagsfest besuchen?«
Ich sagte: »Ihr Geburtstag ist im Juli.«
»Ich weiß«, sagte Miss Darling. »Am zwanzigsten Juli. Also kann sie ihn doch in diesem Jahr am zwanzigsten März feiern, weil sie krank ist.«
»Aber sie hat im Juli Geburtstag.«
»Weil sie krank ist«, wiederholte Miss Darling mit warnend schriller Stimme. »Der Koch im Krankenhaus wird eine Torte backen, und ihr könnt ihr alle ein kleines Geschenk machen, für fünfundzwanzig Cent oder so. Es muss zwischen zwei und vier sein, denn da ist Besuchszeit. Wir können nicht alle hin, das wären zu viele. Wer möchte also gehen, und wer möchte hierbleiben und Lesen üben?«
Wir hoben alle die Hand. Miss Darling holte die Liste mit den Rechtschreibzensuren hervor und suchte die fünfzehn Besten aus, zwölf Mädchen und drei Jungen. Dann wollten die drei Jungen nicht gehen, und sie suchte die nächsten drei Mädchen aus. Und ich weiß nicht, wann es geschah, aber ich glaube, wahrscheinlich von diesem Moment an galt das Geburtstagsfest von Myra Sayla als etwas Tolles.
Vielleicht, weil Gladys Healey eine Tante hatte, die Krankenschwester war, vielleicht, weil Krankheiten und Krankenhäuser so aufregend waren, oder einfach, weil Myra so gänzlich, so eindrucksvoll von allen Regeln und Bedingungen unseres Lebens ausgenommen war. Wir fingen an, von ihr zu reden, als sei sie etwas, das uns gehörte, und ihr Fest wurde zu einer guten Sache; mit weiblicher Umständlichkeit diskutierten wir darüber in der großen Pause und beschlossen, dass fünfundzwanzig Cent zu wenig waren.
Wir begaben uns an einem sonnigen Nachmittag, als der Schnee schmolz, mit den Geschenken in der Hand ins Krankenhaus, und eine Krankenschwester führte uns im Gänsemarsch hinauf und einen Flur entlang mit halboffenen Türen und leisen Gesprächen. Sie und Miss Darling sagten immer wieder: »Pst-pst«, aber wir gingen ohnehin auf Zehenspitzen; unser Krankenhausbenehmen war untadelig.
In diesem kleinen ländlichen Krankenhaus gab es keine Kinderstation, und Myra war kein Kleinkind mehr; man hatte sie in ein Zimmer mit zwei grauen alten Frauen gelegt. Eine Schwester stellte Wandschirme um sie, als wir hereinkamen.
Myra saß im Bett auf, in einem steifen, übergroßen Krankenhausnachthemd. Ihre Haare waren heruntergelassen, die langen Zöpfe fielen über ihre Schultern auf die Bettdecke. Aber ihr Gesicht war unverändert, unbewegt wie immer.
Das Fest sei ihr angekündigt worden, sagte Miss Darling, damit sie nicht davon überrascht wurde und sich aufregte; aber offenbar hatte sie es nicht geglaubt oder nicht verstanden, worum es ging. Sie sah uns genauso zu wie auf dem Schulhof, wenn wir spielten.
»Da sind wir!«, sagte Miss Darling. »Da sind wir also!«
Und wir sagten: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Myra! Hallo, Myra, herzlichen Glückwunsch!« Myra sagte: »Aber mein Geburtstag ist im Juli.« Ihre Stimme war leiser denn je, schwebend, ausdruckslos.
»Ist doch egal, wann er wirklich ist«, sagte Miss Darling. »Tun wir einfach so, als wäre er heute! Wie alt bist du jetzt, Myra?«
»Elf«, sagte Myra. »Im Juli.«
Dann zogen wir alle die Mäntel aus, so dass unsere Festkleider zum Vorschein kamen, und legten unsereGeschenke in ihren pastellfarbenen, blumigen Verpackungen auf Myras Bett. Einige von unseren Müttern hatten riesige,
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