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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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vielfach gewundene Schleifen aus prächtigem Satin angebracht, andere hatten sogar kleine Sträußchen aus unechten Rosen und Maiglöckchen angeklebt. »Hier, Myra«, sagten wir, »hier, Myra, herzlichen Glückwunsch.« Myra sah nicht uns an, sondern nur die Schleifen, rosa oder blau und mit Silber gesprenkelt, und die Sträußchen; sie gefielen ihr, genau wie der Schmetterling. Ein unschuldiger Ausdruck trat auf ihr Gesicht, ein leises, heimliches Lächeln.
    »Mach sie auf, Myra«, sagte Miss Darling. »Sie sind für dich.«
    Myra sammelte die Geschenke um sich und befingerte sie mit diesem Lächeln, mit einer vorsichtigen Erkenntnis, einem ganz neuen Stolz. Sie sagte: »Am Samstag komme ich nach London ins St. Joseph-Krankenhaus.«
    »In dem ist meine Mutter gewesen«, sagte jemand. »Wir haben sie besucht. Da sind alle Nonnen.«
    »Die Schwester meines Vaters ist Nonne«, sagte Myra ruhig.
    Sie fing an, die Geschenke auszupacken, und mit einer Miene, die nicht einmal Gladys hätte übertreffen können, entfernte sie das Seidenpapier und die Schleifen, holte Bücher und Puzzlespiele und Ausschneidefiguren hervor, als wären das alles Preise, die sie gewonnen hatte. Miss Darling sagte, vielleicht sollte sie sich bei jedem Geschenk, das sie auspackte, bedanken und den Namen der betreffenden Person nennen, damit klar war, dass sie wusste, von wem es war, also sagte Myra: »Danke, Mary Louise, danke, Carol«, und als meins an der Reihe war, sagte sie: »Danke, Helen.« Alle erklärten ihr ihre Geschenke, und es herrschte Stimmengewirr und Lebhaftigkeit und ein bisschen Fröhlichkeit, über die Myra präsidierte, auch wenn sie selbst nicht fröhlich war. Eine Torte wurde hereingebracht, mit Happy Birthday Myra in Rosa auf Weiß und mit elf Kerzen. Miss Darling zündete die Kerzen an, und wir sangen alle »Happy Birthday to You« und riefen: »Wünsch dir was, Myra, wünsch dir was …«, und Myra pustete sie aus. Dann aßen wir alle Torte und Erdbeereis.
    Um vier Uhr ertönte ein Summer, und die Schwester brachte das schmutzige Geschirr und das, was von der Torte übrig war, hinaus, und wir zogen unsere Mäntel an, um nach Hause zu gehen. Alle sagten: »Auf Wiedersehen, Myra«, und Myra saß im Bett und sah zu, wie wir gingen, mit geradem Rücken, von keinem Kissen gestützt, ihre Hände ruhten auf den Geschenken. Aber an der Tür hörte ich sie rufen; sie rief: »Helen!« Nur zwei von den anderen hörten es; Miss Darling hörte es nicht, denn sie war schon vorausgegangen. Ich kehrte zurück zum Bett.
    Myra sagte: »Ich hab zu viele Sachen. Nimm dir was davon.«
    »Spinnst du?«, sagte ich. »Die sind zu deinem Geburtstag. Zum Geburtstag bekommt man immer viel.«
    »Doch, nimm dir was«, sagte Myra. Sie griff zu einem Etui aus Kunstleder, das einen Spiegel, einen Kamm, eine Nagelfeile, einen farblosen Lippenstift und ein kleines, mit Goldfäden gerandetes Taschentuch enthielt. Es war mir schon vorher aufgefallen. »Nimm das«, sagte sie.
    »Willst du es nicht?«
    »Nimm es.« Sie drückte es mir in die Hand. Unsere Finger berührten sich wieder.
    »Wenn ich aus London zurück bin«, sagte Myra, »kannst du nach der Schule zu mir nach Hause spielen kommen.«
    »Ist gut«, sagte ich. Durch das Krankenhausfenster war das klare, weit tragende Geräusch von Kindern zu hören, die draußen auf der Straße spielten, sich vielleicht die letzte Schneeballschlacht des Jahres lieferten. Und dieses Geräusch warf dunkle Schatten auf Myra, auf ihren Triumph und ihre Freigebigkeit, aber am meisten auf ihre Zukunft, in der sie diesen Platz für mich gefunden hatte. Alle Geschenke auf dem Bett, das Seidenpapier und die Schleifen, diese mit Schuld behafteten Opfergaben, gerieten in diesen Schatten, waren keine harmlosen Gegenstände mehr, die sich ohne jede Gefahr anfassen, austauschen und annehmen ließen. Ich wollte das Etui jetzt nicht mehr haben, wusste aber nicht, wie, mit welcher Lüge ich es ausschlagen konnte. Ich werde es weiterschenken, dachte ich, ich werde niemals damit spielen. Ich werde es meinem kleinen Bruder zum Kaputtmachen geben.
    Die Schwester kam mit einem Glas Kakao zurück.
    »Was ist, hast du den Summer nicht gehört?«
    So wurde ich entlassen, befreit durch die Schranken, die sich jetzt um Myra schlossen, um ihre unbekannte, magische, nach Äther riechende Krankenhauswelt, und durch den Verrat meines eigenen Herzens. »Danke schön«, sagte ich. »Danke für das Dings. Auf Wiedersehen.«
    Sagte Myra mir auf

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