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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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er irgendwie durchs Fenster eingedrungen war und sich hinter dem Linoleum versteckte. Aber wir hatten Regeln zu unserer Sicherheit. Wenn das Licht an war, waren wir sicher, solange wir nicht den abgetretenen Teppich verließen, der unser Schlafzimmer begrenzte; wenn das Licht aus war, war es nirgendwo sicher außer in den Betten. Ich musste mich zum Lichtausmachen ans Ende meines Bettes knien und die Hand so weit wie möglich ausstrecken, um an die Schnur zu gelangen.
    Im Dunkeln lagen wir in unseren Betten, unseren schmalen Rettungsflößen, hefteten unsere Blicke an das schwache Licht aus dem Treppenschacht und sangen Lieder. Laird sang immer »Jingle Bells«, ganz egal, ob Weihnachten war oder nicht, und ich sang »Danny Boy«. Ich mochte den Klang meiner eigenen Stimme, die zart und flehend im Dunkeln aufstieg. Wir konnten jetzt die hohen, überfrorenen Fenster erkennen, düster-weiße Gestalten. An der Stelle Wenn ich dann tot bin, lange noch vor dir  … brachte ein Schauder, ausgelöst nicht von dem kalten Bettzeug, sondern von angenehmen Empfindungen, mich fast zum Schweigen. So knie dich hin und sprich ein Ave über mir  … Was war ein Ave? Jeden Tag vergaß ich, es herauszufinden.
    Laird fiel gleich nach dem Singen in Schlaf. Ich konnte seine langen, zufriedenen, zischelnden Atemzüge hören. Jetzt zog ich für die Zeit, die mir verblieb, die einzige Zeit, in der ich ganz für mich war, und vielleicht die beste Zeit des ganzen Tages, die Decken fest um mich herum und fuhr mit einer der Geschichten fort, die ich mir Abend für Abend erzählte. Diese Geschichten handelten von mir selbst, nur dass ich darin schon ein bisschen größer war; sie fanden in einer Welt statt, die erkennbar die meinige war, jedoch eine, die Gelegenheiten für Mut, Kühnheit und Selbstaufopferung bot, wie die meinige es nie tat. Ich rettete Menschen aus einem zerbombten Haus (es bedrückte mich, dass der wirkliche Krieg sich so weit fort von Jubilee abspielte). Ich erschoss zwei rasende Wölfe, die den Schulhof bedrohten (die Lehrer kauerten schlotternd hinter mir). Ich ritt auf einem feurigen Pferd die Hauptstraße von Jubilee hinunter und nahm den Dank der Bevölkerung für eine Heldentat entgegen, die noch erdacht werden musste (niemand ritt dort auf einem Pferd, nur König Billy in der Parade am Tag der Orange-Männer). In diesen Geschichten wurde immer geritten und geschossen, obwohl ich erst zwei Mal auf einem Pferd gesessen hatte – direkt auf seinem Rücken, denn einen Sattel besaßen wir nicht –, und beim zweiten Mal war ich gleich wieder heruntergerutscht und dem Pferd zwischen die Füße gefallen; es war gelassen über michhinweggeschritten. Ich lernte tatsächlich schießen, aber ich konnte noch nichts treffen, nicht einmal die Konservendosen auf den Zaunpfählen.
    Solange sie noch lebten, bewohnten die Füchse eine Welt, die mein Vater für sie geschaffen hatte. Sie war von einem hohen Schutzzaun umgeben wie eine mittelalterliche Stadt, mit einem Tor, das abends mit einem Vorhängeschloss gesichert wurde. Entlang der Straßen dieser Stadt reihten sich große, solide Verschläge. Jeder von ihnen hatte eine richtige Tür, durch die ein Mann gehen konnte, eine hölzerne Rampe entlang des Drahts, damit die Füchse rauf- und runterlaufen konnten, und eine Hütte – etwas wie eine Wäschetruhe mit Luftlöchern drin –, in der sie schliefen und im Winter blieben und ihre Jungen bekamen. Futter- und Wassernäpfe waren so am Draht befestigt, dass sie von außen geleert und gesäubert werden konnten. Die Näpfe waren aus alten Konservendosen gemacht, die Rampen und die Hütten aus Resten von Bauholz. Alles war sauber und sinnreich; mein Vater war unermüdlich in seinem Erfindungsreichtum, und sein absolutes Lieblingsbuch war Robinson Crusoe . Er hatte eine Blechtonne auf eine Schubkarre montiert, um die Käfige mit Wasser zu versorgen. Das war im Sommer meine Aufgabe, wenn die Füchse zwei Mal am Tag Wasser brauchten. Zwischen neun und zehn Uhr morgens und dann wieder nach dem Abendbrot füllte ich die Tonne an der Pumpe und schob sie über den Hof zu den Verschlägen, wo ich sie abstellte, mit meiner Gießkanne daraus schöpfte und die Straßen entlangging. Laird kam auch dazu, mit seiner kleinen weiß-grünen Blumengießkanne, die zu voll war, gegen seine Beine schlug und überschwappte, so dass seine Leinenschuhe nass wurden. Ich hatte die richtige Gießkanne, die meines Vaters, tragen konnte ich sie allerdings nur,

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