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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Stall, bis das Fleisch gebraucht wurde. Nach dem Krieg kauften sich die Farmer Traktoren und schafften die Pferde nach und nach völlig ab, und so kam es manchmal vor, dass wir ein gutes, gesundes Pferd im Stall hatten, für das es einfach keineVerwendung mehr gab. Wenn das im Winter geschah, konnte es sein, dass wir das Pferd bis zum Frühjahr in unserem Stall behielten, denn wir hatten genug Heu, und wenn viel Schnee lag – und der Schneepflug unsere Straße wieder einmal nicht geräumt hatte –, konnte wir notfalls mit dem Pferdeschlitten in die Stadt fahren.
    In dem Winter, als ich elf Jahre alt war, hatten wir zwei Pferde im Stall. Wir wussten nicht, welche Namen sie vorher gehabt hatten, also nannten wir sie Mack und Flora. Mack war ein altes, schwarzes Arbeitspferd, rußig und gleichgültig. Flora war eine fuchsrote Stute, ein Zugpferd. Wir spannten sie beide vor den Schlitten. Mack war langsam und willfährig. Flora neigte zu Anfällen heftiger Angst, scheute vor Autos und sogar vor anderen Pferden, aber wir liebten ihre Schnelligkeit und ihren hochtrabenden Gang, ihr chevalereskes und draufgängerisches Gebaren. Am Samstag gingen wir hinunter zum Stall, und sobald wir die Tür zu seiner anheimelnden, nach Tieren riechenden Dunkelheit öffneten, warf Flora den Kopf hoch, rollte die Augen, wieherte verzweifelt und erlitt auf der Stelle eine Nervenkrise. Es war nicht sicher, in ihre Box zu gehen; sie schlug aus.
    In jenem Winter hörte ich langsam immer mehr über das Thema, das meine Mutter vor der Scheune angesprochen hatte. Ich fühlte mich nicht mehr sicher.Es schien, als gäbe es in den Köpfen der Menschen um mich herum eine stetige Unterströmung von Gedanken über dieses eine Thema, die sich nicht umlenken ließ. Das Wort Mädchen war mir früher unschuldig und unbelastet vorgekommen, wie das Wort Kind ; jetzt stellte sich heraus, dass es das keineswegs war. Ein Mädchen war nicht, wie ich angenommen hatte, einfach das, was ich war; es war, was ich werden musste. Es war eine Festlegung, immer mit Nachdruck behaftet, mit Vorwurf und Enttäuschung. Außerdem war es ein Scherz auf meine Kosten. Einmal kämpfte ich mit Laird wie so oft, aber zum ersten Mal musste ich all meine Kraft gegen ihn aufbieten; trotzdem gelang es ihm, einen Augenblick lang meinen Arm festzuklemmen und mir richtig weh zu tun. Henry sah das und sagte lachend: »Dieser Laird wird’s dir schon irgendwann zeigen!« Laird wurde ein ganzes Stück größer. Aber auch ich wurde größer.
    Meine Großmutter kam, um ein paar Wochen bei uns zu bleiben, und ich hörte noch andere Dinge. »Mädchen knallen nicht so mit den Türen.« – »Mädchen halten die Knie zusammen, wenn sie sich hinsetzen.« Und noch schlimmer, auf einige meiner Fragen hin: »Das geht Mädchen nichts an.« Ich knallte weiter mit den Türen und setzte mich so linkisch wie möglich hin, überzeugt, durch solche Maßnahmen frei zu bleiben.
    Als der Frühling kam, wurden die Pferde auf den Hof hinausgelassen. Mack stand an die Scheunenwand gelehnt und versuchte, sich den Hals und die Hinterbacken zu kratzen, aber Flora trabte auf und ab, bäumte sich an den Zäunen auf und schlug mit den Hufen gegen die Zaunpfähle. Die Schneewehen schwanden rasch dahin und gaben die harte graubraune Erde frei, die vertrauten Anhöhen und Senken des Geländes, öde und kahl nach der phantastischen Landschaft des Winters. Es herrschte ein großes Gefühl von Öffnung und Befreiung. Wir trugen jetzt nur noch Galoschen über unseren Schuhen; unsere Füße kamen uns lächerlich leicht vor. Eines Samstags gingen wir zum Stall hinaus und sahen, alle Türen standen offen und ließen das ungewohnte Sonnenlicht und frische Luft hinein. Henry war da, trödelte aber nur herum und betrachtete seine Sammlung von Kalendern, die hinter den Boxen angepinnt waren, in einem Teil des Stalls, den meine Mutter wahrscheinlich noch nie gesehen hatte.
    »Seid ihr gekommen, um euch von eurem alten Freund Mack zu verabschieden?«, fragte Henry. »Hier, gib ihm einen Mundvoll Hafer.« Er schüttete etwas Hafer in Lairds hohle Hände, und Laird ging Mack füttern. Macks Zähne waren in schlechtem Zustand. Er fraß sehr langsam, schob den Hafer geduldig im Maul herum, suchte einen Backenzahnstumpf, auf dem erihn zermahlen konnte. »Der arme alte Mack«, sagte Henry düster. »Wenn die Zähne vom Pferd hin sind, dann ist auch das Pferd hin. So ist das nun mal.«
    »Werdet ihr ihn heute erschießen?«, fragte ich.

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