Tanz der Sterne - Unter dem Weltenbaum 03
diesem Mann abstammte.
»Nein. Nicht ein Kind ist jemals zurückgekehrt. Wolfstern stand am Tor und beschimpfte die hindurchgegangenen Kinder auf das Übelste. Schrie ihnen zu, sich endlich ein Herz zu fassen, sich gefälligst anzustrengen und den Weg zurück zu suchen.«
»Warum hat denn nicht ein Beherzter ihn hinterhergestoßen?« wollte der Krieger wissen.
»Dazu bedurfte es erst seines Bruders Wolkenbruch, der hatte mitansehen müssen, wie seine eigene Tochter weinend und schreiend von Wolfstern durch das Tor gestoßen wurde. Er machte dem mörderischen Treiben seines Bruders schließlich ein Ende. Eines Tages während einer Versammlung stand Wolkenbruch einfach auf, trat vor seinen Bruder und erstach ihn. Nur ein Stich genügte, und Wolfstern starb.«
»Die einzige Möglichkeit für die Sonnenflieger, sich ihre Selbstachtung zu bewahren, Enkel«, fügte Morgenstern hinzu. Tiefe Falten hatten sich in ihr Gesicht gegraben. »Wolkenbruch hat damit seine Familie wie auch das Volk der Ikarier gerettet. Er bestieg nach Wolfstern den Thron, und damit hatten die Experimente ein Ende. Aber die Narben sind geblieben.«
»Wegen unserer übergroßen Scham sprechen wir so selten über Wolfstern«, sagte Sternenströmer.
Morgensterns Miene zuckte. »Der Mord an so vielen Kindern war aber nicht sein einziges Verbrechen. Wolfstern hat noch viel mehr Untaten verübt …«
»Wie zum Beispiel, den Ring der Zauberin zu stehlen!« rief Sternenströmer, und Axis zuckte zusammen. Verstohlen betastete er in seiner Tasche den Ring, den er von der Unterwelt mitgebracht hatte.
»Aber vor allem die Kindsmorde haben die Vogelmenschen ihm niemals vergessen«, fuhr die Großmutter fort. »Was zählt schon ein Ring, selbst ein uralter und unermeßlich wertvoller, angesichts so vieler vergeudeter Leben?«
»Und nun ist der Unhold wieder zurück«, murmelte Axis. Kein Wunder, daß Orr sich darauf so entsetzt gezeigt hatte. »Da ist er wohl doch hinter die Geheimnisse des Sternentors gekommen und endlich von der anderen Seite hindurchgetreten. So weit, so gut … oder schlecht. Aber wieso? Jack, habt Ihr vielleicht eine Ahnung, warum Wolfstern zurückgekehrt ist?«
Der Schweinehirt hatte die meiste Zeit geschwiegen, in der Axis die Geschichte seines unrühmlichen Vorfahren erzählt worden war. Nun, da der Krieger ihn ansprach, sah er ihn gefaßt und mit ruhigen Augen an. »Nein, ich kann mir wirklich keinen Reim darauf machen.«
Der Sternenmann sah die beiden anderen Wächter fragend an, und als die nur die Achseln zuckten, seinen Vater und seine Großmutter.
Auch die schüttelten den Kopf.
Axis sah sich in der Runde um. Woher hatte er nur das Gefühl, daß irgend jemand in dieser Gruppe mehr wußte, vielleicht sogar genau sagen konnte, was Wolfstern zur Rückkehr bewegt hatte?
»Nun gut, wenn wir nicht hinter seine Gründe kommen können, sollten wir uns vielleicht der Frage zuwenden, wie lange er schon wieder unter uns weilt. Hat dazu jemand etwas zu sagen?«
Wieder schüttelten alle den Kopf. Der Krieger verlor die Geduld. Irgendwer mußte doch etwas wissen! »Wenn Wolfstern nach seiner Rückkehr länger zu bleiben beabsichtigte, mußte er sich eine Tarnung zulegen, um sich gegen eine Entdeckung zu schützen. Die Ikarier, und die anderen erst recht, sollten nichts von seiner Rückkehr erfahren. Aber die Vogelmenschen haben bis vor etwa tausend Jahren das Sternentor benutzt. Andere sicher auch …« er warf einen Blick auf Morgenstern und Veremund. »Ach, da fällt mir etwas ein. Wie lange besteht bei den Ikariern schon der Glaube, daß es Unglück bringe, die Statuen der Krallenfürsten in der Halle des Tors zu berühren?«
Diesmal erhielt er eine Antwort. Jack sagte: »Seit dreitausend Jahren.«
Der Krieger fuhr zurück. »So lange schon? Dann müssen wir wohl davon ausgehen, daß Wolfstern seit dreitausend Jahren wieder hier ist. Wieviel Unheil er in einer so langen Zeit angerichtet haben kann!«
»Viel wichtiger dürfte aber doch die Frage sein«, wandte sein Vater ein, »wo er sich jetzt aufhält. Und in welcher Verkleidung er sich zeigt.«
»Ja, welche Tarnung hat Wolfstern angenommen?« rief Axis. »Ich weiß, daß ich nicht der uralte Zauberer bin, aber jeder von Euch hier könnte er sein. Wolfstern ist sicher ein Meister der Verkleidung. Wie soll ich ihn da erkennen?«
Alle rissen entsetzt oder empört den Mund auf. »Wir?« stammelte Ogden. »Aber wir sind doch Wächter. Uns kann er doch nicht zur Tarnung
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