Tanz des Lebens
das Siegel gespritzt werden, das ist wichtig, damit es seine volle Wirkung entfalten kann. Allerdings gibt es ein Problem …«
»Was für ein Problem?«
Minutenlange Stille erfolgte. Quin rollte mit den Augen und spießte mit der Gabel ein Stück Fisch auf. Doch sein Vater lag stocksteif im Bett und presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, während er langsam zu zittern begann. »Sturer alter Mann«, brummte Quin leise. Laut sagte er in den Hörer: »U Thaala, sind Sie noch dran? Ich fragte, um was für ein Problem es sich handelt.«
»Mit dem Serum für das Mädchen und ihren Bruder ist alles in Ordnung. Nur deine und Liams Blutproben konnten wir nicht kreuzen.«
»Wieso stimmt unser Blut nicht überein? Wir sind Brüder«, fragte Quin verdattert, während er ahnte, dass U Thaala sichtlich Schwierigkeiten hatte, die richtigen Worte zu finden. Er hörte das an seinem nervösen Atem, der durch die Leitung rauschte. »Quin, eure Blutproben stimmen nicht überein. Normalerweise haben Geschwister immer jeweils ein identisches Molekül von beiden Elternteilen – bei euch beiden existiert dieses nicht. Wir haben die Proben dreimal analysiert. Ich würde nicht anrufen, wenn ich nicht sicher wäre. Ein Irrtum ist ausgeschlossen.«
»Und das bedeutet?«, fragte Quin irritiert, während er mit der anderen Hand gerade noch rechtzeitig den Teller retten konnte, der seinem Vater durch sein Zittern vom Tablett gerutscht war.
»Das bedeutet, dass euer Blut nicht als Siegelserum zu kreuzen ist. Aber was es eigentlich bedeutet…«, seufzte U Thaala »… ist, dass Liam und du nicht von demselben Elternpaar abstammt.«
Er hörte noch ein paar Minuten zu, konnte sich später allerdings nicht mehr erinnern, was U Thaala geredet hatte. In seinen Kopf rauschte es. Quin legte langsam und mit großer Sorgfalt den Hörer auf. Dann blickte er auf das Bett mit den Unmengen an weißen Kopfkissen und in schreckensgeweitete Augen. Mit geradezu animalischem Instinkt wusste er plötzlich, was er tun musste. Mit schnellen Schritten durchquerte er das Zimmer.
Schweigend riss er eine Schublade nach der anderen aus der Kommode und ließ sie zu Boden krachen, wühlte in den Unterwäschehaufen, den Socken und den unzähligen Schlafanzügen, so lange, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Bedächtig schlug er das alte, zerschlissene Buch auf. Auf dem Einband las er die leicht verblassten, ehemals goldenen Buchstaben: Stammbuch.
Auf der ersten Seite standen Daten von den Geburtsurkunden seines Vaters und von seiner Mutter, die er nie kennengelernt hatte. Auf der nächsten Seite folgte die Heiratsurkunde der beiden in der Pagode von Burma, unterschrieben von einem Mönch namens Li Li Baraghnyee. Danach folgte die Geburtsurkunde von Liam. Vorsichtig blätterte Quin das nächste brüchige Pergament um. Überflog alle der verschlissenen, alten Blätter – bis zur letzten Seite. Einen Moment später schlug er das Buch mit einem dumpfen Knall zu.
Schwerfällig erhob er sich vom Fußboden. Wie eine von unsichtbaren Fäden gelenkte Marionette durchquerte er den Raum. Quin trat dicht an das Bett heran und starrte auf U Din. Dann beugte sich so dicht zu ihm hinunter, dass er die blaue Ader an der Schläfe pochen sah, als sein Mund die Ohrmuschel des alten Mannes streifte, und er flüsterte: »Hast du mir etwas zu sagen – Vater? «
Aus U Dins Mund drangen abgehackte gurgelnde Laute. Langsam drehte er seinen Kopf von Quin weg. Er warf einen langen Blick aus dem Fenster, durch das die glitzernden Sonnenstrahlen auf sein faltiges, tränennasses Gesicht fielen. Schließlich hob U Din seine linke Augenbraue und deutete mit seinen Augen auf den Nachttisch. Ausdruckslos folgte Quin seiner Art der Kommunikation. »Was willst du mir zeigen? Das da …?« Quin deutete auf den Bilderrahmen der auf dem kleinen Tisch stand und nahm ihn in die Hand.
U Din nickte. Das Bild zeigte zwei neun- und elfjährige Jungen in enger Umarmung. Quin konnte sich noch genau an diesen Moment erinnern. Es war an ihrem letzten Tag aufgenommen worden, kurz bevor sie ihre Heimat Burma verließen. U Dins zittriger Finger deutete auf die Person, die Quin liebevoll umarmte. »Liam«, flüsterte Quin fassungslos. »Liam weiß alles?«
Zögernd nickte der alte Mann und seine Augen füllten sich erneut mit Tränen. Quin hielt inne. Irgendetwas Eiskaltes berührte sein Herz. Hinter ihm krachte der Bilderrahmen auf die Holzdielen. Das Glas zersplitterte in tausend Scherben, in
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