Tanz des Lebens
schlüpfte er in seine Jeans und zog sich ein frisches T-Shirt über. Kurz danach klopfte es an der Tür und Liam erschien im Zimmer.
Er durchquerte den Raum und verstrubbelte im Vorbeigehen Quins Haar. Dieser seufzte. Die Angewohnheit, sich ständig zu berühren und Körperkontakt zu suchen, war ihm verhasst. Aber Liam schien es aus irgendeinem Grund wichtig zu sein, also ließ er es stillschweigend über sich ergehen.
»Hi, geht’s dir wieder besser?«
»Mhm. Mir ist etwas schwindelig, aber sonst bin ich in Ordnung.«
»Das freut mich«, sagte Liam zögernd.
»Aber ich habe anscheinend einen Blackout. Kannst du mich mal kurz briefen, was seit gestern Abend passiert ist und wo wir uns hier befinden?«
»Du erinnerst dich nicht an letzte Nacht?«
Quin schüttelte den Kopf.
»An gar nichts?«, hakte Liam nach.
Kopfschüttelnd verneinte Quin und begann auf den Knien übers Parkett zu rutschen, auf der Suche nach seinem zweiten Turnschuh.
»Wir befinden uns in einem kleinen, abgelegenen Dorf in den Bergen von Los Angeles. Genaugenommen auf der Ranch des Jade-Zirkels. Hier leben die Nachfahren des Gründerrates. Bei der gestrigen Zugfahrt ist es dir nicht so gut gegangen.« Die Matratze bewegte sich, als Liam sich auf dem Bettrand niederließ und kurz schwieg. »Du hast entsetzliches Nasenbluten gehabt«, ergänzte er und fügte leise hinzu: »Faye hat sich um dich gekümmert.«
»Aua … Verdammt!« Fluchend tauchte Quin unter dem hölzernen Bettgestell aus massiver Eiche auf und rieb sich seinen Hinterkopf. Dumpf schwante ihm, woher der Kirschduft an seinen Klamotten kam. Schweigend, mit den Rücken ans Bett gelehnt, zog er den zweiten Turnschuh an. Nachdenklich beugte er sich hinunter und beschäftigte sich hochkonzentriert mit den Schnürsenkeln, bis er mitten in der Bewegung innehielt – die Erinnerung seiner gestrigen Erniedrigung bohrte sich wie ein Blitz in seine Gedanken.
Das Eukalyptusöl, das ihm geholfen hatte, dass sein Kopf nicht explodierte … Ihre beschützenden Hände, unter denen er ein flüchtiges Gefühl des Friedens in seinem erkalteten Körper gespürt hatte … Ihr ureigener jasmingetränkter Kirschgeruch … Lunababe!
Liam hatte ihn die ganze Zeit beobachtet. Jetzt stand er vom Bett auf und sagte mit belegter Stimme: »Wo wir das jetzt geklärt haben, sollten wir es vergessen und runtergehen. Der Gründerrat wartet schon.«
Sie erinnerte sich an jede noch so winzig kleine Einzelheit, als wäre es erst gestern passiert. Die schrumpeligen Füßchen, die winzigen, zu wütenden Fäusten geballten Hände. Das runzlige Gesicht; hochrot mit tiefen Falten und Furchen und mit einem gelbgrünlichen Schorf vermischt. Mom, die etwas von einem behinderten, verachtenswerten Kretin gestammelt und danach türschlagend aus dem Zimmer gerannt war. Dad, der ihr nachlief.
Faye hatte nicht auf ihre Eltern geachtet. Vorsichtig hatte sie sich heruntergebeugt und ihn mit ihrem Zeigefinger hauchzart berührt. Sein wütendes Gebrüll war schlagartig verstummt und mit einem erstaunlich starken Griff hatte seine kleine Hand ihren Finger umklammert. Das war der Moment, in dem sie sich unwiderruflich und für immer in Luke Johannes Marvin Conners verliebte. Sie hatte alleine und verlassen im Kinderzimmer an seiner Wiege gestanden – und für sie war Luke das schönste Baby auf der ganzen Welt.
Damals hatte sie sich geschworen, ihn immer und überall zu beschützen. Und daran hatte sich bis heute nichts geändert. Wehmütig stand Faye, die Hände in den Taschen ihres beigen Wickelrocks vergraben, im Schatten der überdachten Terrasse und beobachtete ihren Bruder. Luke lehnte am Gatter der weitläufigen Pferdekoppel, streichelte selbstvergessen einen braunen Wallach und schien seinem dampfenden Pferdeatem zu lauschen, der sich mit den Regenwolken zu einer Nebelwolke vermischte. »Wir schaffen das schon«, murmelte Faye, wie um sich selber Mut zuzusprechen.
»Davon bin ich felsenfest überzeugt«, ertönte eine wohlklingende Stimme hinter ihr. Erschrocken drehte sie sich um und sah die Silhouette einer Frau im Türrahmen stehen. »Wer … wer sind Sie«, stotterte Faye wie ertappt.
»Ich bin Page.« Aus dem Schatten trat eine grazile Frau mit dunklen Haaren und irisierenden smaragdgrünen Augen, die sie intensiv betrachteten. »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken«, fügte sie schnell hinzu und reichte ihr die Hand. »Sag mir Bescheid, wenn du oder Luke etwas braucht.«
»Ääh …
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