Tanz des Lebens
das ist echt nett von Ihnen.«
»Kein Problem«, rief Page, während sie barfuß die Treppe runterlief oder vielmehr schwebte, wie Faye neidlos feststellte, denn die Frau bewegte sich mit der Anmut einer Balletttänzerin. Erst als Page schon hinter der Lichtung am nebelverhangenen Waldrand entschwunden war, schloss Faye verdattert den Mund. Sie war dieser Fremden noch nie im Leben begegnet.
Auch war sie sich ziemlich sicher, dass sie an keinem obskuren Gedankenaustausch diverser Internetportale zwecks stiller Post teilgenommen hatte – woher um alles in der Welt kannte diese Frau dann den Namen ihres Bruders? Verwirrt hob sie den Kopf und beobachtete die kreischenden Raben, die ihre Runde zwischen den regenverhangenen Gewitterwolken drehten. Der harte Regen war einem leichten Nieselregen gewichen, der die Kleider klamm am Körper kleben ließ, einen grauen Schleier über die Welt legte und einem das Gefühl der Einsamkeit vermittelte.
»Luke, willst du nicht reinkommen?«, rief sie ihm zu.
»Nein.« Freudig erregt drehte er sich in Fayes Richtung. »Oh komm, Schwesterchen. Mir gefällt es hier draußen und das bisschen Regen wird mich schon nicht umbringen. Außerdem hat mir Liam versprochen, dass er nach seiner Besprechung vorbeikommt und mir die restlichen Pferde in den Stallungen zeigt.« Stimmt. Sofort kehrte der besorgte Ausdruck auf Fayes Gesicht zurück, als sie sich daran erinnerte, dass das hier kein normaler Ferienausflug war.
Liam und Quin waren schon über zwei Stunden in dem Arbeitszimmer, in dem sie sich mit dem Gründerrat vorstehenden U Thaala zurückgezogen hatten. Und der Zutritt zu diesem Arbeitszimmer war nur den Mitgliedern des Jade-Zirkels vorbehalten. Das erinnerte Faye an noch etwas anderes. Schnell öffnete sie ihre Tasche und kramte in dem Wirrwarr ihrer ständig mitgeschleppten, unnützen Dinge rum. Nachdem sie endlich ihr Handy gefunden hatte, setzte sie sich auf die Verandastufen und drückte die Kurzwahltaste.
»Mirabagla Faye, geht es dir gut?«
»Ja«, flüsterte sie und seufzte erleichtert. Der Klang von Shivas Stimme umhüllte ihre angespannten Nerven wie ein beruhigender Schleier. In kurzen Zügen erzählte Faye ihr, was seit dem Vollmondtanz geschehen war und wo sie sich jetzt befanden. »Weshalb ich eigentlich anrufe«, fuhr Faye am Ende ihres Berichts fort, »ich benötige deine Hilfe. Ich weiß, dass du deine Geheimrezepte normalerweise nicht preisgibst. Aber das hier ist ein Notfall, Shiva. Bitte verrate mir ein Rezept, irgendetwas, was bei entsetzlich starkem Nasenbluten hilft.«
»Habt ihr es schon mit Reisetabletten versucht?«
»Ja, normale Medikamente helfen nicht.«
In der Leitung trat Stille ein. Nervös kickte Faye mit der Spitze ihres Turnschuhs ein nasses Laubblatt von der Treppe.
»Brauchst du das für den jungen Noyee-Bruder?«
»Ja«, stimmte sie kleinlaut zu, wie immer überrascht, wie schnell Shiva zwischen den Zeilen hören konnte, sogar durchs Telefon, beeilte sich aber, sofort etwas klarzustellen. »Hör mal. Ich … Also mir liegt überhaupt nichts an diesem grässlich unhöflichen Kerl, aber –«
»Liebes, ist schon in Ordnung. Ich bin mir sicher, du hast deine Gründe«, unterbrach sie Shiva ruhig.
»Also gut, hör zu. Geh und suche Mo Mo. Sie arbeitet in der Küche. Frag sie nach der Frau mit den smaragdgrünen Augen. Mo Mo weiß immer, wo sie sich gerade aufhält.
»Meinst du Page?«
»Ja«, drang Shivas Stimme an ihr Ohr. »Hast du sie schon kennengelernt?«
»Eh, ja so irgendwie … vorhin ganz kurz.«
»Tatsächlich? Gut«, fuhr Shiva fort, »dann geh zu ihr und sage ihr, dass ich dich schicke. Sie wird dir, beziehungsweise Quinton Noyee helfen.«
Erleichtert atmete Faye aus. »Danke.«
Der Versammlung war im vollen Gang. U Thaala saß an seinem Schreibtisch. Er gehörte wie alle anderen Mitglieder zu den Nachfahren des Gründerrates der burmesischen Stadt Mandalay. Das elfenbeinschimmernde Weiß seines langen Haarzopfs im Rücken verlieh dem alten Shaolin-Meister, von dem niemand sein genaues Alter wusste, eine respektvolle, mystische Aura. In seinem honigfarbenen, von unzähligen Falten durchfurchten Gesicht schimmerten aufmerksame gütige Augen, von denen Quin bei der Begrüßung das Gefühl beschlich, dass sie ihm bis auf den Grund seiner Seele blickten.
Zu seiner rechten Seite standen sein Stellvertreter und vier seiner engsten Vertrauenspersonen. Liam und Quin standen ihnen gegenüber. Quin, der nie sehr
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