Tanz im Dunkel
bei diesem Grüppchen Tänzer wohler fühlte als in Gesellschaft ihrer Kommilitonen. Allerdings kamen die meisten ihrer Studienkollegen auch aus Verhältnissen, die viel mehr mit ihrem eigenen sozialen Hintergrund gemeinsam hatten, als beispielsweise mit dem von Julie. Als Julie ihren Highschool-Abschluss gemacht hatte, war sie bereits schwanger gewesen, hatte das Baby dann auf die Welt gebracht und es den Eltern des Kindsvaters überlassen. Nun arbeitete sie praktisch ununterbrochen – in der Hoffnung, irgendwann einmal genug Geld beisammen zu haben, um sich ein kleines Haus zu kaufen. Falls sie das schaffte, hatte sie Rue einmal erzählt, würde ihr das Ehepaar, bei dem ihr Kind nun lebte, erlauben, es an den Wochenenden zu sich zu holen. Megan, eine zierliche, temperamentvolle Brünette, verdiente sich durch Tanzen ihr Studium der Veterinärmedizin. Angesichts Rues vernarbtem Bauch hatte sie sofort begonnen, darüber nachzudenken, wie man das Problem lösen könnte. Kein Entsetzen, keine Fragen.
Der Einzige, der ungeheuer emotional reagiert hatte, war Sean. Warum war er so aufgebracht? Wahrscheinlich verachtete er sie, dachte Rue. Hielt sie für kaputt. Wenn Rue sich nicht zu einem gewissen Grad schuldig gefühlt hätte, hätte sie sich Seans Reaktion nicht zu Herzen genommen. Doch sie hatte sich – zumindest teilweise – stets schuldig gefühlt, dass sie die drohende Gefahr nicht erkannte hatte, als es an ihrer Tür geklopft und jemand sie um ein Date gebeten hatte.
Nachdem sie an diesem Abend das Studio verlassen hatten, ging Sean einfach neben ihr her.
“Was hast du vor?”, fragte Rue, nachdem sie ein paar Blocks nebeneinander gelaufen waren, ohne dass er sein Verhalten erklärt hätte.
“Ich gehe in dieselbe Richtung wie du”, antwortete er ruhig.
“Und wie lange wirst du in diese Richtung gehen?”
“Wahrscheinlich so lang, bis du dort bist, wo du hin willst.”
“Warum?”
Da war es wieder, das zornige Funkeln in seinen Augen. Sie schrak zurück.
“Weil ich es für richtig erachte”, antwortete er, wie es einem echten Aristokraten entsprach.
“Ich will dir mal etwas sagen, Freundchen”, begann sie und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. “Du begleitest mich nach Hause, wenn ich dich darum bitte oder es dir erlaube, nicht weil du es für irgendetwas ‘erachtest’. Was machst du, wenn
ich
es für falsch halte, dass du mich begleitest?”
“Was machst du”, erwiderte er, “wenn ich es trotzdem für richtig halte, mit dir zu gehen?”
“Ich könnte zum Beispiel die Polizei rufen”, erwiderte sie. Einen schärferen Ton anzuschlagen funktionierte bei Sean offensichtlich nicht.
“Ach? Und könnte die Polizei mich aufhalten?”
“Menschliche Cops möglicherweise nicht, aber es gibt auch Vampire bei der Polizei.”
“Aber dann hättest du keinen Tanzpartner mehr, oder?”
Das saß. Nein, dann hätte sie keinen mehr. Und da Vampire rar gesät waren, die sich ihr Geld mit Tanzen verdienten, würde es ziemlich lange dauern, bis sie einen anderen Partner fand. Das wiederum würde bedeuten, dass sie keine Arbeit hatte. Und wenn sie keine Arbeit hatte …
“Du erpresst mich also”, stellte sie fest.
“Nenne es, wie du willst”, sagte er. “Ich begleite dich nach Hause.” Sean trug seine scharf geschnittene Nase ziemlich hoch, als er in die richtige Richtung deutete.
Resigniert schulterte Rue wieder ihre Tasche. Er stieg zusammen mit ihr in den Bus ein, dann wieder aus und kam gleichzeitig mit ihr vor ihrem Haus an, ohne dass sie auf dem Weg ein Wort miteinander gewechselt hatten. Nachdem Rue die Stufen zur Haustür hinaufgelaufen war, wartete er solange, bis sie aufgesperrt und hineingegangen war. Er sah sie drinnen die Treppe hochgehen und zog sich danach in eine dunkle Straßenecke zurück, bis er in ihrer Wohnung im zweiten Stock das Licht angehen sah.
Ab diesem Zeitpunkt begleitete er sie jeden Abend schweigend nach Hause. Am vierten Abend fragte er sie, wie es ihr auf der Uni ging. Sie erzählte ihm von der Geologie-Prüfung, die sie an diesem Tag gehabt hatte. Am nächsten Abend wünschte er ihr zum Abschied lächelnd süße Träume. Die Winkel seines M-förmigen Mundes zogen sich dabei nach oben, und sein Lächeln ließ ihn wie einen kleinen Jungen aussehen.
Am sechsten Abend winkte eine Frau Sean von Weitem zu, während er und Rue gerade aus dem Bus ausstiegen. Als die Frau die Straße überquerte, erkannte Rue sie. Es war Hallie, eine Mitarbeiterin von
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