Tanz im Dunkel
Badezimmer war winzig. Wenigstens waren die Särge neu und weich gepolstert. Sean, der eine exorbitante Summe für diese spartanische Unterkunft bezahlt hatte, zog sich seufzend aus und kletterte in den größeren der beiden Särge. Ehe er sich hinlegte, inspizierte er die Verriegelung an der Innenseite des Sargdeckels. Schließlich klappte er den Deckel über sich zu – zwei Sekunden, bevor er spürte, dass die Sonne aufgehen würde.
Dann starb er.
6. KAPITEL
Als Sean am Abend das Leben wieder zurück in seinen Körper fließen spürte, war er ungeheuer hungrig. Er erwachte mit ausgefahrenen Fangzähnen, die nur darauf warteten, sich in irgendeinen weichen Hals zu graben. Doch Sean gönnte sich nur selten frisches Menschenblut; derzeit waren die kleinen Schlucke, die er von Rue trank, alles, was er wollte. Er nahm das synthetische Blut aus dem Kühlschrank, und da er es nicht gern kalt trank, stellte er die Flasche in die Badewanne, während er eine heiße Dusche nahm. Es gefiel ihm zwar nicht, sich Rues Geruch von der Haut zu waschen, doch er wollte möglichst normal und unauffällig auf die Leute wirken, mit denen er sich heute unterhalten würde. Je menschlicher ein Vampir aussah und sich verhielt, desto leichter fiel es ihm, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Sean war aufgefallen, dass Thompson, der sich noch lebhaft daran erinnerte, wie es war, zu essen und zu atmen, diesbezüglich viel weniger Probleme hatte.
Sean hatte sich die Telefonnummern und Namen, die er in Rues Adressbuch gesehen hatte, notiert – nur für den Fall, dass ihm sein Gedächtnis ein Schnippchen schlug. Eine der Nummern erklärte sich von selbst: Rue hatte “Mom und Dad” dazugeschrieben. Neben einer anderen Nummer stand “Les”. Das wiederum war eindeutig ein Eintrag, dem Sean nachgehen musste; ein alleinstehender Mann konnte eventuell ein Rivale sein. Die interessantesten Telefonnummern waren die, die neben dem Namen “Sergeant Kryder” standen. Rue hatte sich neben einer Nummer “Polizeistation”, neben der zweiten “zu Hause” notiert.
Pineville sah im Grunde wie jede andere Kleinstadt aus. Das Stadtbild schien von einer einzigen großen Firma dominiert zu sein, der “Möbelfabrik Hutton” – einem riesigen Werk, das, wie Sean festgestellt hatte, rund um die Uhr in Betrieb war. Auf dem Schild der Bibliothek stand “Camille-Hutton-Bibliothek”, und auf dem Areal der größten Kirchengemeinde in Pineville befand sich ein Gebäude, das sich “Carver-Hutton-II.-Familienzentrum” nannte.
Die Reifenfirma war ebenso im Besitz eines Mitglieds der Familie Hutton wie die Autohäuser.
Es gab keinerlei Hinweis, der darauf hätte schließen lassen, dass auch die Polizeistation im Besitz der Huttons war, doch Sean hatte den Verdacht, dass der Gedanke so abwegig nicht war.
Er hatte das Polizeirevier rasch gefunden: Das niedrige Gebäude aus roten Ziegelsteinen befand sich direkt am Hauptplatz. Links und rechts des gepflasterten Weges, der vom Parkplatz zur Eingangstür führte, wuchsen Azaleen, die gerade zu blühen begannen. Sobald Sean die gläserne Schwingtür aufgestoßen hatte, sah er einen jungen Cop, der die Füße auf eine Art Tresen gelegt hatte, der als Raumteiler zwischen dem öffentlichen und dem privaten Teil des Zimmers fungierte. Eine junge Frau – nicht in Uniform, sondern in knappem Rock und engem T-Shirt – bediente den Kopierer an der Wand. Die beiden unterhielten sich gerade, als Sean eintrat.
“Ja, bitte?” Der junge Cop schwang die Füße auf den Boden.
Die junge Frau hatte Sean zuerst nur aus dem Augenwinkel gesehen und guckte nun ein zweites Mal hin. “Ein Vampir”, flüsterte sie mit erstickter Stimme.
Der Cop sah erstaunt von ihr zu Sean. Dann schien ihm plötzlich Seans weißes Gesicht aufzufallen. Es war nicht zu übersehen, dass er sofort die Schultern straffte.
“Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?”, erkundigte er sich.
“Ich würde gern mit Sergeant Kryder sprechen”, sagte Sean und lächelte mit geschlossenem Mund.
“Oh, der ist schon im Ruhestand”, rief das Mädchen, noch ehe der junge Mann, auf dessen Uniform ein Schild mit dem Namen “Farrington” befestigt war, antworten konnte. Er wirkte nicht gerade erfreut darüber, dass sich das Mädchen in sein Gespräch mit dem Vampir einmischte.
“Wo kann ich ihn finden?”, fragte Sean.
Officer Farrington warf dem Mädchen einen warnenden Blick zu und nahm einen Stift zur Hand, um Sean den Weg aufzuzeichnen. “Nach dem
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