Tanz im Dunkel
Collegejahr an Weihnachten nach Hause gekommen”, begann Will zu erzählen. “Layla war an diesem Tag zur Königin der Weihnachtsparade gekürt worden und saß gerade auf einem riesigen Schlitten – natürlich ist es hier in Pineville ein Schlitten auf Rädern, der von Pferden gezogen wird, weil wir ja nicht jedes Jahr Schnee haben –, war ganz in Weiß gekleidet und hatte ein funkelndes Krönchen auf dem Kopf. Sie sah wie geschaffen dafür aus.”
“Außerdem ist sie ein lieber Mensch”, fügte Judith unvermittelt hinzu. “Ich will damit nicht sagen, dass sie ein Engel oder eine Heilige ist, aber Layla ist eine liebenswürdige junge Frau. Und sie hat immer Rückgrat gezeigt wie ihre Mutter. Nein, ich muss mich korrigieren … Ihre Mutter hat einen starken Willen, aber kein Rückgrat. Das hat sie nämlich dem Society-Gott geopfert.”
Will lachte. Es war ein kurzes, schnaubendes Lachen, mit dem er die ihm wohl geläufige Anspielung offenbar nicht zum ersten Mal quittierte. “Das ist der Gott, der manche Kleinstädte regiert”, erklärte er Sean. “Derjenige, der sagt, dass du in den Himmel kommst, und zwar in den Society-Himmel, wenn du alles richtig machst und dich an die gesellschaftlichen Spielregeln hältst.”
“Im Society-Himmel wird man zu all den ‘wichtigen’ Events mit den ‘richtigen’ Leuten eingeladen”, fügte Judith hinzu.
Sean merkte, dass es in seinen Schläfen zu pochen und zu surren begann. Er kannte dieses Phänomen – es machte sich immer dann bemerkbar, wenn er eine unbändige Wut spürte.
“Was ist passiert?”, fragte er. Wobei er sich im Grunde ziemlich sicher war, dass er es wusste.
“Carver ist mit Layla ausgegangen. Sie war erst siebzehn. Von ihm eingeladen zu werden war aufregend und hat ihr geschmeichelt. Sie hat mir erzählt, dass er sie die ersten beiden Male sehr gut behandelt hat. Beim dritten Mal hat er sie vergewaltigt.”
“Sie ist zu uns gekommen”, erzählte Judith. “Ihre Mom hat ihr gar nicht richtig zugehört, und ihr Dad war der Meinung, dass sie sich geirrt hätte. Da sie doch jede Menge Parfüm verwendet, sich geschminkt und verführerisch gekleidet hätte.” Judith schüttelte den Kopf. “Sie hatte … Es war ihr erstes Mal. Sie war völlig durcheinander und … Will hat den damaligen Polizeichef angerufen. Der war zwar kein Monster …”, sagte Judith leise, “… aber nicht gewillt, seinen Job aufs Spiel zu setzen. Und das hätte er, wenn er Carver festgenommen hätte.”
“Sie hat sich zu Hause verkrochen und ist zwei Wochen lang nicht auf die Straße gegangen”, erzählte Will weiter. “Ihre Mutter hat uns angerufen und gesagt, dass wir keine Lügenmärchen über die Huttons in die Welt setzen sollen. Sie hat erklärt, dass Layla die Situation falsch interpretiert hätte. Genau das waren ihre Worte.”
“Und dann”, sagte Judith, “hat Layla gemerkt, dass sie schwanger ist.”
Das Surren in Seans Kopf wurde lauter. Intensiver. In all den Jahrhunderten, die er hinter sich hatte, war er noch nie so wütend gewesen.
“Sie hat Carver angerufen und es ihm gesagt. Ich nehme an, sie dachte, dass etwas so Ernstes ihn zur Vernunft bringen würde. Vielleicht hat sie geglaubt, dass seine Eltern schuld daran waren, dass ein so brutaler Mensch aus ihm geworden ist. Vielleicht hat sie auch gedacht, dass er irgendwie wieder gutmachen würde, was er ihr angetan hat. Sie war erst siebzehn. Ach, ich weiß nicht, was sie sich gedacht hat. Möglicherweise hat sie angenommen, er würde sie zu einem Arzt bringen. Sie wollte es ihren Eltern nicht sagen.”
“Er hat beschlossen, die Sache selbst zu erledigen”, folgerte Sean.
“Genau.” Will nickte. “Er ist komplett durchgedreht. Normalerweise kann er die Fassade aufrecht halten, wenn er unter Leuten ist.” Will Kryder wirkte so unbeteiligt, als würde er das Verhalten eines exotischen Tiers beschreiben, doch er hatte seine Hände so fest ineinander verschränkt, dass sie weiß waren.
“An jenem Abend konnte Carver sich nicht mehr verstellen. Er ist zum Haus der LeMays gefahren, und Layla ist hinausgegangen, ohne Tex oder LeeAnne zu sagen, wo sie hin wollte. Doch Les hat sie durchs Fenster beobachtet und gesehen … er hat gesehen …”
“Nachdem er sie ein paar Mal ins Gesicht geschlagen hatte, hat er einer Flasche, die er dabei hatte, den Hals abgebrochen und ist damit auf Layla losgegangen”, sagte Judith lapidar. Dann schwieg sie eine Weile. “Les kam gerade noch rechtzeitig und
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