Tanz im Dunkel
ließ sich telefonisch einen Sarg reservieren und stieg in den Flieger, nachdem er sich vergewissert hatte, dass es im Heck einen Notraum gab, in den er sich bei Tagesanbruch zurückziehen konnte. Doch alles lief gut, und als die Sonne aufging, befand sich Sean in einem Zimmer mit drei anderen besetzten Särgen.
7. KAPITEL
Die Mitarbeiter von Blue Moon Entertainment und Black-Moon Productions hockten – allesamt erschöpft – im großen Übungsraum. Vor einer knappen Stunde war die Sonne untergegangen, und ein paar der Vampire sahen müde und lustlos aus. Jeder hielt eine Flasche synthetisches Blut in der Hand. Die meisten menschlichen Tänzerinnen und Tänzer umklammerten ihre Kaffeetassen.
Rue war in voller Kostümierung aufgetaucht. Je länger sie über das Auftauchen jenes Mannes nachgedacht hatte, der Carver Hutton IV. so stark ähnlich sah, desto ängstlicher war sie geworden. Das ganze Wochenende war sie wegen dieser Angst, wegen des ärgerlichen Streits mit Sean und dem aufregenden Kuss, an den sie ständig dachte, zu nichts zu gebrauchen gewesen. Zwar hatte sie wie jedes Wochenende ein paar Arbeiten im Haushalt erledigt, doch mehr schlecht als recht. Zum Lernen war sie überhaupt nicht in der Lage gewesen.
Als Sean in seiner Jogginghose und einem Grateful-Dead-T-Shirt hereinkam, klopfte ihr Herz deutlich schneller. Er setzte sich neben ihr auf den Boden, lehnte sich wie sie mit dem Rücken an die Spiegelwand und rutschte dann näher zu ihr, bis sich ihre Schultern und Hüften berührten.
Sean sagte nichts, und Rue war zu verlegen, um ihn anzusehen. Irgendwie war sie davon ausgegangen, dass er sich bei ihr melden würde, und die Tatsache, dass gestern Abend weder das Telefon geläutet noch es an ihrer Tür geklopft hatte, hatte sie nicht schlecht überrascht. Männer ließen bei ihr normalerweise nicht locker, egal, wie kompliziert das Verhältnis auch sein mochte. Ich frage ihn ganz bestimmt nicht, wo er war, schwor sie sich.
Sylvia telefonierte gerade und rauchte dabei – eine Gewohnheit, die alle menschlichen Tänzer hassten. Sylvia demonstrierte damit, dass sie die Chefin war. Rue verzog das Gesicht und versuchte, sich so hinzusetzen, dass ihr der Rücken weniger weh tat. Die harte Spiegelwand war keine ideale Lehne für ihre Wirbelsäule, die auf der Party in Mitleidenschaft gezogen worden war, als Rue Megan nach Charles Brodys Stoß aufgefangen hatte. Megan bewegte sich ebenfalls ein wenig schwerfällig, und Hallie wirkte irgendwie eingeschüchtert. David hingegen schien es wieder gut zu gehen, soweit Rue es beurteilen konnte. Sie hoffte, dass die kommende Woche sich für die ganze Truppe erfreulicher gestalten würde.
Rue seufzte und versuchte, ihr Gewicht ein wenig mehr auf ihre rechte Hüfte zu verlagern. Im nächsten Augenblick spürte sie zu ihrer großen Überraschung, wie sie hochgehoben wurde. Sean hatte die Beine gespreizt und Rue vor sich gesetzt, sodass sie sich an seinen Bauch und seine Brust lehnen konnte. Dann rutschte er noch ein Stück vor, und sofort war es für Rue ungleich bequemer als vorher.
Sie nahm an, dass niemand Seans Geste kommentieren würde, wenn sie selbst nicht viel Aufhebens darum machte. Also sagte sie kein Wort und ließ sich nicht anmerken, wie überrascht sie war. Sie lehnte sich nur entspannt zurück und wusste, dass Sean dies als ein Dankeschön verstehen würde.
Sylvia legte endlich auf. Ein dunkelhaariger weiblicher Vampir mit wundervoll glatter Hat und toten Augen sagte: “Sylvia, wir wissen alle, dass Sie hier der Boss sind. Machen Sie doch die verdammte Zigarette aus.” Das Mädchen deutete mit einer eleganten, aber gebieterischen Handbewegung auf den Glimmstängel.
“Abilene, erzählen Sie, wie es Ihnen und Mustafa geht”, sagte Sylvia und blies demonstrativ noch etwas Rauch in die Luft. Doch dann drückte sie die Zigarette doch aus.
Mustafa, ein großer Mensch mit üppigem Schnurrbart, hatte Rues Ansicht nach mehr Muskeln, als ein Mann brauchte. Er hatte eine sehr dunkle Hautfarbe und war ziemlich langsam im Denken. Rue fragte sich, wie dieses Tanzpaar, bei dem der Vampir der weibliche Part war, wohl zurechtkam. Wie mochte das bloß funktionieren? Machte Abilene die Hebefiguren? Doch dann fiel Rue – mit einiger Verspätung – ein, dass bei den Shows von Black-Moon Hebefiguren höchstwahrscheinlich irrelevant waren.
“Bei uns läuft es super”, antwortete Abilene. “Möchtest du auch etwas sagen, Moose?” Moose war Abilenes Spitzname
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