Tanz im Dunkel
hat Carver mit seinem Baseballschläger verprügelt. Er war damals im Highschool-Team.”
“Erzählen Sie weiter”, sagte Sean. Er brachte die Worte nur mit Mühe heraus. Die Kryders, die in den tragischen Erinnerungen versunken waren, schauten auf, als sie Seans Stimme hörten. Beide waren schockiert, als sie sein Gesicht sahen. “Ich bin nicht wütend auf Sie”, erklärte Sean ganz ruhig. “Erzählen Sie weiter.”
“Was sich im Krankenhaus abgespielt hat, können Sie sich sicher vorstellen”, fuhr Will mit matter Stimme fort. “Sie hat das Kind natürlich verloren. Außerdem trug sie schwere Verletzungen davon, deren Folgen bleibend waren. Sie war ziemlich lang im Krankenhaus.”
“Die Schwere ihrer Verletzungen war nicht zu leugnen”, sagte Judith verbittert. “Doch die Huttons kannten selbstverständlich einen guten Anwalt, der auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert hat. Für die Huttons gelten hier in Pineville andere Regeln, auch vor dem Gesetz. Carver wurde vorübergehend für unzurechnungsfähig erklärt, und der Richter hat ihn in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen und seine Familie verpflichtet, für Laylas Krankenhauskosten aufzukommen. Dann hat er noch eine einstweilige Verfügung erlassen, dass Carver keinen Kontakt mehr zu Layla aufnehmen und ihr nicht näher als dreißig Meter kommen darf. Ich glaube, diese Verfügung ist nicht einmal das Papier wert, auf dem sie steht. Sobald die Ärzte der psychiatrischen Klinik Carver für ‘stabil’ erklärt hatten, wurde er entlassen und musste ein paar Antiaggressionstrainings und andere ambulante Psychotherapien mitmachen. Vier Jahre hat das alles in allem gedauert.” Sie schüttelte den Kopf. “Das ist natürlich gar nichts.”
“Er hat Layla vergewaltigt, er hat sein eigenes Kind in ihrem Bauch getötet – und geht aus der ganzen Angelegenheit nach einer symbolischen Bestrafung als freier Mann hervor.” Sean schüttelte in Gedanken versunken den Kopf. “Seit ich in den USA lebe, habe ich das Rechtssystem hier immer bewundert. Es ist um so viel besser als die Gesetze zu der Zeit, als ich ein Junge in Irland war und Kinder gehängt werden konnten, wenn sie aus Hunger Brot gestohlen haben. Doch das hier ist um nichts besser.”
Die Kryders wirkten beide so verlegen, als wären sie für die Ungerechtigkeit persönlich verantwortlich. “Noch ein Grund für uns, von hier wegzuziehen”, sagte Will. “Früher oder später und wenn wir am wenigsten damit rechnen wird Carver III. uns dafür büßen lassen, dass wir auf Laylas Seite waren. Nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hat sie eine Weile bei uns gewohnt. Sie wollte ihre Eltern nicht sehen. Les ist sie immer besuchen gekommen. LeeAnne nicht. Tex auch nicht.”
Sean wirkte weder skeptisch noch verlor er ein Wort über das Verhalten von Laylas Familie. Er hatte in seinem langen Leben Schlimmeres gesehen. Doch noch nie hatte er erlebt, dass jemandem etwas derartig Furchtbares angetan worden war, der ihm so am Herzen lag wie Layla LaRue LeMay.
“Meldet sie sich manchmal bei Ihnen?”, erkundigte er sich.
“Ja, ab und zu ruft sie an. Entweder hier oder auf der Polizeistation, um Will zu fragen, ob Carver schon auf freiem Fuß ist.”
“Und ist er es?”
“Ja. Die vier Jahre sind vorbei, und er braucht sich an keinerlei richterliche Anordnungen mehr zu halten. Er ist frei und kann tun und lassen, was er will.”
“Und lebt er hier?”
“Nein. Er hat die Stadt sofort verlassen.”
“Sie hat ihn gesehen”, platzte es aus Sean heraus.
“Oh Gott, nein. Wo?”
“Bei einer Party, auf der wir getanzt haben.”
“Hat er sich ihr genähert?”
“Nein.”
“Hat
er
sie gesehen?” Judith traf den Nagel auf den Kopf. Genau das war die Frage.
“Ich weiß es nicht”, sagte Sean nachdenklich. “Aber ich muss zurück. Sofort.”
“Ich hoffe, dass Sie sich ihr gegenüber anständig benehmen”, sagte Will. Sollte mir je etwas anderes zu Ohren kommen, bekommen Sie es mit mir persönlich zu tun. Layla hat genug durchgemacht.”
Sean stand auf und verneigte sich auf altmodische Art und Weise. “Wir besuchen Sie in Florida”, sagte er.
Auf der Fahrt von Pineville zum Flughafen holte Sean aus seinem Leihwagen das Letzte heraus, um noch einen Flug zu erwischen, der ihn rechtzeitig vor Sonnenaufgang zurück in die Stadt brachte. In Rhodes gab es ganz in der Nähe des Flughafens ein sicheres Apartment, das von der Vampir-Organisation vermietet wurde. Er
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