Tanz im Dunkel
erzählte er. “Zum Glück konnte ich lesen und schreiben, weil unser Pfarrer es mir beigebracht hat. Meine Schwestern hingegen haben es nie gelernt, weil niemand geglaubt hat, dass sie es jemals brauchen würden.” Dann sah er sie vorwurfsvoll an. “Du solltest langsam zu essen anfangen. Ich habe dir das Essen nicht besorgt, damit du es kalt werden lässt.”
Rue nahm die Gabel und senkte den Kopf, damit er ihr Lächeln nicht bemerkte.
“Ich habe bei einem reichen Mann zu arbeiten begonnen, der auf der Durchreise war. Sein Diener ist in der Zeit, als er und sein Herr in unserem Dorf in der Gastwirtschaft logierten, an Fieber gestorben, und ich wurde sofort eingestellt. Anfangs habe ich Strothers, seinen Butler, unterstützt, und als sie nach England zurückgekehrt sind, bin ich mit ihnen gegangen. Der Name meines Dienstherrn war Sir Tobias Lovell, und er war ein merkwürdiger Typ. Sehr merkwürdig, wie ich damals fand.”
“Es hat sich herausgestellt, dass er ein Vampir ist, nehme ich an.”
“Ja. Ja, das war er. Er hat ein ziemlich exzentrisches Verhalten an den Tag gelegt, aber in der damaligen Zeit hat man Leute, die eine höhere soziale Stellung als man selbst innehatten, nicht infrage gestellt. Vor allem auch deshalb, weil er offensichtlich ein sehr großzügiger Mann war, der andere gut behandelte. Außerdem war er immer viel auf Reisen, sodass niemand Gelegenheit hatte, sich länger Gedanken über ihn zu machen. Hin und wieder hat er sich eine Weile auf seinen Landsitz zurückgezogen, was immer wunderbar für mich war. Denn Reisen war damals ausgesprochen schwierig und mühsam.”
“Aber wie bist du sein Butler geworden? Was wurde aus Strothers?”
“Strothers war schon viele Jahre in Lovells Diensten, und als ich achtzehn war, hatte er so starke Arthritis, dass jeder Schritt eine Qual für ihn war. Sir Tobias hat ihm aus Dank für seine Treue ein kleines Haus zur Verfügung gestellt, in dem er wohnen konnte, und ihm eine Rente gezahlt. Mich hat er dann befördert. Ich habe mich um seine Kleidung, seine Perücken und alle seine sonstigen Bedürfnisse gekümmert. Ich habe ihn rasiert, sein Bett gemacht, sein Bad vorbereiten lassen, wenn er es wollte, und seine Schuhe geputzt. Deshalb weiß ich, wie man sich um dich kümmert und für dich sorgt.” Er strich ihr übers Haar. “Sobald ich mehr mit Sir Tobias zu tun hatte, war mir klar, dass das Verhalten dieses Mannes nicht nur exzentrisch war, sondern mehr dahinterstecken musste. Aber ich habe ihn wegen seiner Güte sehr geschätzt und wusste, dass ich seine Geheimnisse für mich behalten musste – sowohl ihm, als auch mir selbst zuliebe. Und so haben wir, also Herr und Diener, viele Jahre gemeinsam verbracht. Es müssen insgesamt zwölf oder sogar fünfzehn gewesen sein. Weißt du, ich hatte irgendwie das Zeitgefühl verloren und wusste nicht mehr, wie alt ich war.”
Das war in gewisser Weise das Traurigste, was Rue jemals gehört hatte. Sie senkte den Blick, damit er ihre Tränen nicht sah.
“Später ist mir klar geworden, dass er Blut von den Frauen getrunken hat, mit denen er geschlafen hat”, erzählte Sean weiter. “Er hat sie ausgesprochen gut behandelt, aber die meisten von ihnen waren am nächsten Tag arg geschwächt. Unter den wenigen Nachbarn, die wir auf dem Land hatten, galt er als Frauenheld. Natürlich musste er sich bei den Damen abwechseln, damit keine von ihnen die Hauptlast seiner Bedürfnisse zu tragen hatte. Wenn er in die Stadt fuhr, wo er so viele einschlägige Etablissements besuchen konnte, wie er wollte, wirkte er immer gesünder. Außerdem konnte er dort auch in den dunklen Gassen auf die Jagd gehen.”
“Wie ist es weitergegangen?”
“Die Leute aus dem Dorf sind mit der Zeit immer misstrauischer geworden. Er wurde ja überhaupt nicht älter, verstehst du? Und damals alterten die Menschen ziemlich rasch. Dann hat er viel Geld verloren, konnte es sich nicht mehr leisten, ständig auf Reisen zu gehen, und hat daher mehr Zeit auf seinem Landsitz verbracht. Sonntags ist er nie in die Kirche gegangen. Einerseits konnte er ja tagsüber ohnehin nicht hinaus, andererseits durfte er auch kein Kreuz tragen. Und obwohl er der Kirche viel Geld gespendet hat, wurde er dem Pfarrer schließlich suspekt.”
Sean seufzte. “Die Leute haben begonnen, auch mir aus dem Weg zu gehen, da ich ja Sir Tobias’ Butler war”, fuhr er fort. “Es war also eine sehr schwierige Zeit. Und eines Nachts sind ein paar Landadelige und der
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