Tanz im Dunkel
sonst?”
“Hier natürlich. Bei mir.”
Sie bemühte sich, den Blick nicht durch seine winzige Wohnung schweifen zu lassen. Ihre Bücher und Klamotten konnte sie unter Umständen hier unterbringen, doch von all ihren anderen Habseligkeiten, die sie mühsam erworben hatte, würde sie sich trennen müssen. Wie sollten sie ihre beiden Leben, die so unterschiedlich waren, unter einen Hut bringen? Wie viel dessen, was er für sie empfand, war Mitleid?
Er sah ihr genau an, in welcher Stimmung sie war. “Komm, holen wir deine Sachen. Wenn ich mich nicht irre, hast du an der Uni zwei Tage versäumt. Morgen musst du hingehen, wenn du dazu in der Lage bist. Wie sind die Schmerzen beim Gehen?”
Sie versuchte ein paar Schritte. Ihr Gang war langsam und steif. Sean zog ihr mit großer Selbstverständlichkeit die Socken an und band ihr die Stiefel zu. Die Art und Weise, wie er dabei zugleich geschickt und fürsorglich vorging, rührte sie.
“Wenigstens habe ich keine Perücke, die du mir pudern musst.” Sie lächelte.
“Das gehört zu den großen Fortschritten, durch die sich das 18. Jahrhundert vom 21. unterscheidet”, stimmte er zu. “Die Haarpflege und die Schuhe – beides ist heutzutage viel besser.”
“Haare und Schuhe”, wiederholte sie amüsiert. Sie dachte eine Weile über seine Bemerkung nach, während Sean sich fertig machte, und als sie schließlich draußen im Dunkel der Nacht standen, war sie richtig gut gelaunt. Sie freute sich auf die vielen Gespräche, die sie mit Sean noch haben würde, und darauf, dass er ihr von Mode, Sprache und den Sitten und Gebräuchen der Jahrhunderte erzählen würde, die er erlebt hatte. Das gab zweifellos genügend Stoff für eine interessante Semesterarbeit.
Sie liebte es, Sean reden zu hören. Sie liebte es, von ihm geküsst zu werden. Sie liebte es, wie er ihr das Gefühl gab, eine Frau zu sein, die … tja, die gut im Bett war. Sie liebte es, wie er mit ihr umging, wenn sie tanzten, und sie liebte seine respektvolle Art, sie dabei im Arm zu halten. Wie hatte sich das bloß in den letzten paar Monaten so weit entwickelt? Wann war er ihr so wichtig geworden?
Als sie nun neben ihm die Straße entlangging, war sie zufrieden. Obwohl sie eben erst Fürchterliches erlebt hatte und ihr ganzer Körper wehtat, war sie ruhig und gelassen. Denn sie hatte Sean. Sie liebte jede Sommersprosse in seinem Gesicht, seinen seltsamen Mund und sein Talent zu tanzen.
Er hatte wunderbare Dinge für sie getan. Aber er hatte nicht gesagt, dass er sie liebte. Er sah sie nur mit seinen blauen Augen an, als wäre sie die schönste Frau der Welt, und das sollte ihr eigentlich genügen. Wenn er mit ihr schlief, spürte sie, dass er sie wundervoll fand. Und
das
sollte ihr doch wirklich genügen, nicht wahr? Rue hatte den starken Verdacht, dass jeder Mann sie wegen ihrer Skepsis auslachen würde, aber sie war nun mal kein Mann, und daher musste sie die Worte hören – ohne fordern zu müssen, dass er sie sagte.
Im nächsten Augenblick wurde sie durch einen höchst ungewöhnlichen Anblick unsanft aus ihrer Grübelei gerissen. Rue hatte automatisch zu ihrer Wohnung hinaufgeschaut, die noch einen halben Häuserblock entfernt war, und eine böse Überraschung erlebt.
“In meiner Wohnung brennt Licht.” Sie blieb abrupt stehen. “Die Deckenbeleuchtung ist an.”
“Du hast sie gestern Abend nicht zufällig brennen lassen?”
“Nein. Die Decke ist sehr hoch, also sind für mich die Glühbirnen schwer zu wechseln. Ich lasse deswegen immer nur die kleine Nachttischlampe brennen.”
“Verstehe.” Sean machte sich sanft von ihr los. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie ihn am Arm gepackt hatte.
“Bitte, geh nicht hinein”, bat sie ihn. “Vielleicht wartet er auf dich.”
“Ich bin stärker als er”, antwortete Sean ein wenig ungeduldig.
“Dann nimm wenigstens die Feuertreppe an der Außenseite des Hauses. Bitte.”
Sean zuckte die Achseln. “Wenn es dich glücklich macht …”
Sie schlich sich näher an das Haus heran und sah zu, wie Sean sich der Feuertreppe näherte. Plötzlich schien er es sich anders zu überlegen und begann, direkt am Gemäuer hochzuklettern, indem er mit den Fingern und den Fußspitzen Halt in den winzigen Zwischenräumen zwischen den Backsteinen suchte. Rue war – außerordentlich – beeindruckt, aber auch besorgt. Ihn auf diese Art und Weise klettern zu sehen war fast so, als beobachte man ein riesiges Insekt. In kürzester Zeit war Sean auf gleicher
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