Tanz im Dunkel
hätte mich nicht so lang mit dem Abschließen des Tanzstudios aufhalten dürfen.”
“Der Einzige, der schuld ist, ist Carver”, widersprach sie. “Ich habe viel zu viele Jahre damit zugebracht, darüber nachzudenken, wer woran Schuld hat. Wir brauchen also nicht wieder von vorn damit anzufangen. Das ganze erste Jahr nach der Vergewaltigung habe ich mich gefragt: Was wäre gewesen, wenn ich dieses grüne Kleid nicht angehabt hätte? Was, wenn ich ihn nicht meine Hand hätte halten lassen? Mich nicht hätte küssen lassen? Nicht eng mit ihm getanzt hätte? War ich schuld, weil ich hübsch ausgesehen habe? War ich schuld, weil ich ihn behandelt habe, wie jeden anderen auch, mit dem ich gern ausgegangen bin? Nein. Es war seine Schuld, dass er aus einer ganz normalen Verabredung mit einem Teenager ein Höllen-Date gemacht hat.”
Sean fasste sie vorsichtig am Kinn und drehte ihren Kopf auf die andere Seite, damit er die Verletzungen in ihrem Gesicht ansehen konnte. Er küsste eine Schürfwunde auf ihrer Wange und zog dann die Bettdecke hinunter, um zu sehen, wo sie noch verletzt worden war. Rue musste sich beherrschen, um die Decke nicht sofort wieder hochzuziehen. Dieses Ausmaß der Vertrautheit war wunderbar und aufregend, aber sie war nicht daran gewöhnt.
“So nah ist mir seit Jahren niemand gewesen”, erklärte sie. “Nicht einmal die Ärzte haben mich so genau angesehen.” Dann befahl sie sich, den Mund zu halten. Sie plapperte zu viel.
“Niemand sollte je so viel von dir zu Gesicht bekommen”, sagte er abwesend. “Niemand außer mir.” Seine Finger, die sogar noch heller waren als ihre magnolienweiße Haut, strichen über einen dunkelroten Fleck auf ihren Rippen. “Wie stark sind die Schmerzen?”
“Mein Körper ist ganz steif und tut ziemlich weh”, gab sie zu. “Ich glaube, dass meine Muskeln sich verkrampft haben, und dann, als er auf mich eingeprügelt hat …”
Sean legte seine Hand vorsichtig auf ihren Bauch, sehr nah an ihrer Brust. “Wirst du morgen Abend tanzen können? Wir müssen sonst Sylvia anrufen und absagen. Thompson und Julie könnten einspringen.”
Er hatte immer noch eine Erektion. Rue interessierten ihre schmerzenden Muskeln plötzlich herzlich wenig.
“Ich weiß nicht.” Sie bemühte sich, nicht so atemlos zu klingen, wie sie sich fühlte.
“Dreh dich um”, bat er, und sie rollte sich gehorsam auf die Seite. “Wie geht es deinem Rücken?”
Sie ließ probeweise ihre Schultern kreisen. “Fühlt sich ganz okay an”, sagte sie. Seine Finger strichen ihre Wirbelsäule entlang, und sie seufzte. Dann streichelte er über ihre Hüften.
“Ich glaube nicht, dass ich hier verletzt bin.” Lächelnd drückte sie ihr Gesicht in das Kissen.
“Und hier?” Seine Hand wanderte weiter.
“Tut nichts weh.”
“Und hier?”
“Oh nein! Hier ganz bestimmt nicht!”
Er drang von hinten in sie ein und stützte sich dabei mit den Armen auf, sodass sein Gewicht nicht auf ihrem schmerzenden Körper lastete. “Hier?”, erkundigte er sich mit so viel verführerischem Charme, dass ihr Herz butterweich wurde und sie regelrecht dahinschmolz.
“Hier könntest du ein bisschen … massieren”, antwortete sie und seufzte.
“So zum Beispiel?”
“Oh ja …”
Als sie danach noch eine halbe Stunde wohlig entspannt nebeneinander gelegen hatten, setzte Rue sich auf. “Was ich dir jetzt zu sagen habe, ist mir sehr unangenehm – aber ich bin hungrig!”
Sean, dem seine Nachlässigkeit mit einem Schlag bewusst wurde, sprang mit einem einzigen, höchst eleganten Satz aus dem Bett. Ehe Rue es sich versah, hatte er ihr auf die Beine geholfen, sie zu einem Sessel geführt, das Bett frisch überzogen und die alten Laken in einem Wäschekorb verschwinden lassen. Er hatte das Wasser in der Dusche für sie aufgedreht und sich erkundigt, was sie am liebsten essen wollte. “Was du in der Nähe findest”, antwortete sie. “Darum liebe ich Städte. An jeder Ecke gibt es etwas zu essen.”
“Wenn du fertig geduscht hast, bin ich mit deinem Essen zurück”, versprach er.
“Du hast jahrelang keine Lebensmittel mehr gekauft, stimmt’s?” Mehr denn je wurde ihr bewusst, wie alt er eigentlich war.
Er schüttelte den Kopf.
“Macht es dir etwas aus?”
“Ich möchte dir alles geben, was du brauchst, und für dich sorgen.”
Sie starrte ihn mit nachdenklich zusammengekniffenen Lippen an. Aus seinem Mund klangen die Worte nicht wie die eines untertänigen Jammerlappens, der einer
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