Tanz im Dunkel
Höhe mit ihrer Wohnung, schwang sich auf die Feuertreppe vor ihrem Fenster und spähte hinein. Aus der Entfernung war Rue weder in der Lage, seine Reaktion zu deuten, noch sein Gesicht zu sehen.
“Hallo, Rue.” Erschrocken drehte Rue sich um und merkte, dass sich ihre Nachbarin, eine Hobby-Performancekünstlerin, die sich Kinshasa nannte, zu ihr gesellt hatte. “Was macht der Typ da oben?”
“Er guckt in meine Wohnung”, antwortete sie lapidar.
“Was war eigentlich gestern Abend bei dir los, Rue? Es hat sich angehört, als würdest du sämtliche Möbel umstellen.”
“Ich war gestern Abend nicht zu Hause, Kinshasa.”
Kinshasa war hochgewachsen, hatte Dreadlocks und trug eine große Brille mit roter Fassung. Sie war niemand, den man übersah, und niemand, der unangenehme Wahrheiten für sich behielt. “Dann war jemand anderer in deiner Wohnung”, stellte sie fest. “Und jetzt sieht dein Freund nach, was passiert ist?”
Rue nickte.
“Ich nehme an, ich hätte gestern die Cops holen sollen, als der Lärm bei dir losging”, sagte Kinshasa bedauernd. “Irgendwie dachte ich, ich tue dir einen Gefallen, wenn ich weder den Cops noch dem Hausmeister Bescheid sage – aber stattdessen habe ich mich wohl nur wie eine lausige Großstadt-Nachbarin verhalten. Entschuldige bitte.”
“Es war besser für dich, dass du nicht bei mir angeklopft hast”, sagte Rue.
“Oh! So schlimm, was?”
Die beiden beobachteten Seans Abstieg, der nun – ganz unspektakulär – über die Feuertreppe erfolgte. Sean wirkte, sofern Rue seinen Gesichtsausdruck richtig deutete, nicht besonders glücklich.
Und obwohl er generell kein extrovertierter, leutseliger Typ war, wusste Rue, dass er schlechte Neuigkeiten hatte, weil er auf sie zukam, ohne Kinshasa zu beachten.
“Du willst da nicht hinaufgehen, glaub mir”, sagte er. “Sag mir, was du brauchst, und ich hole es für dich.”
Plötzlich wusste Rue, was passiert war. “Er hat Martha umgebracht”, platzte es entsetzt aus ihr heraus. “Oder?”
“Ja.”
“Aber ich muss …” Sie wollte, von Trauer und Schmerz übermannt, zur Eingangstür des Gebäudes laufen, denn in ihrem Kopf war nur ein einziger Gedanke: Sie musste einen Karton für ihre tote Katze suchen.
“Nein”, widersprach Sean. “Du gehst da nicht mehr hinein.”
“Ich muss sie doch begraben.” Rue versuchte seine Hand an ihrem Arm abzuschütteln.
“Nein.”
Rue starrte ihn verständnislos an. “Aber Sean, ich
muss
es tun.”
Kinshasa schaltete sich ein. “Kleines, dein Freund will dir sagen, dass nicht mehr viel übrig ist, was man begraben könnte.”
Rue hatte Mühe, zu akzeptieren, was Kinshasa ihr damit sagen wollte, doch ihr schossen schon tausend andere Dinge durch den Kopf. “Was ist mit meinen Büchern? Meinen Skripten?”, wollte sie wissen, während sie in Gedanken versuchte, sich ein Bild des Ausmaßes des Schadens zu machen.
“Nicht mehr zu gebrauchen.”
“Aber das Semester dauert noch vier Wochen! Wie soll ich …? Ich muss das Studium aufgeben!” Allein die Bücher hatten fast 600 Dollar gekostet. Sie hatte zwar so viele wie möglich aus zweiter Hand gekauft – aber würden sich so spät im Semester noch gebrauchte Bücher auftreiben lassen?
Wenigstens hatte sie ihre Tanzschuhe. Einige Paare lagen bei Blue Moon Entertainment in irgendeiner Ecke, der Rest befand sich in der Tasche, die sie zu Sean mitgenommen hatte. Rues Gedanken überstürzten sich.
“Und meine Klamotten?”, flüsterte sie noch, bevor ihre Knie versagten und sie zusammensackte.
“Ein paar sind vielleicht noch zu retten”, murmelte Sean, doch es klang wenig überzeugend. Er hockte sich zu ihr.
“Ich kenne ein paar Leute, die dir die Wohnung aufräumen könnten”, sagte Kinshasa. “Sie sind gerade aus Afrika eingewandert und könnten das Geld gut gebrauchen.”
Immerhin eine unerwartete Hilfe. “Aber Sean meint, drinnen sieht es wie auf einem Schlachtfeld aus.” Nun rannten Rue die Tränen über das Gesicht.
“Süße, im Vergleich zu den Massengräbern und Massakern, die diese Leute in ihrer Heimat gesehen haben, ist deine Wohnung für sie ein Zuckerschlecken.”
“Es ist gut, dass du mir hilfst, die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken”, sagte Rue und straffte die Schultern. Kinshasa wirkte erstaunt und so, als hätte sie mit ihren Worten eigentlich nichts dergleichen bezweckt. Dann aber biss sie sich auf die Lippen und sagte nichts.
“Ich benehme mich lächerlich”,
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