Tanz im Dunkel
Hand wieder wegnahm, um weiterzugehen, sah sie den blutigen Abdruck, den sie auf dem Marmor hinterlassen hatte. “Sean”, flüsterte sie, denn er war immer noch von ihr abgewandt, um nach möglichen Angreifern Ausschau zu halten.
Als er sich hastig nach ihr umdrehte, fiel sein Blick sofort auf ihren Handabdruck. Ungläubig starrte er darauf. Dann begriff er endlich, wie heftig Rue blutete, was er in seinen hektischen Bemühungen, sie in Sicherheit zu bringen, gar nicht bemerkt hatte.
“Nein”, stammelte er, während er auf ihr Kleid starrte. Er war – falls dies überhaupt möglich war – noch bleicher als sonst.
Seine Augen sahen irgendwie wie die Saphir-Ohrringe der Dame aus dem Publikum aus, dachte Rue. Gleichzeitig war ihr bewusst, dass sie nicht mehr bei klarem Verstand war. Doch vielleicht war das gut so. Denn jeden Augenblick würde der Schmerz in ihr zu wüten beginnen.
“Du verlierst zu viel Blut”, stellte er fest.
“Sie stirbt”, sagte Karl traurig, der wie aus dem Nichts plötzlich neben ihnen aufgetaucht war. Er zog seine weiße Jacke aus und untersuchte Rue. “Selbst wenn du jetzt sofort die Sanitäter rufst … Es ist zu spät.”
“Was …” Sean schien zum ersten Mal nicht zu wissen, was er tun sollte.
“Du musst sie irgendwo verstecken”, sagte Haskell, der nun auch zu ihnen getreten war, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Der sonst wie aus dem Ei gepellte blonde Vampir, der nun überall mit Blut verschmiert war, war noch in der Lage, rational zu denken und zu entscheiden. “Wenn du sie retten willst, ist das die einzige Chance.”
“Ein Versteck finden”, murmelte Sean. Er klang … ängstlich, dachte Rue. Noch nie hatte sie Sean ängstlich erlebt.
“Im Ägypten-Saal”, sagte Karl.
Sean nahm Rue wie ein Kind auf den Arm und rannte los. Haskell und Karl folgten ihm, um ihm vor Huttons möglichen Komplizen den Rücken frei zu halten. Doch der Einzige, der auf sie zukam und eine wirre Bemerkung über Rues blutende Wunden machte, war ein Museumswärter. Haskell – eindeutig nicht in der Stimmung für Konversation und außerdem durch den Geruch von Blut ein wenig aggressiv – legte dem Wärter von hinten eine Hand in den Nacken und drückte so lang zu, bis der Mann zu Boden ging.
Der Ägypten-Saal war immer Rues Lieblingssaal gewesen. Sie liebte die Sarkophage, die Mumiensärge und sogar die Mumien selbst. Zwar hatte sie oft darüber nachgedacht, ob es ethisch vertretbar war, tote Menschen auszustellen, denn Tote hatten an sich das Recht, unbehelligt zu ruhen, doch es gefiel ihr einfach zu sehr, sich die jahrtausendealten Mumien anzusehen. Sie liebte es, sich vorzustellen, wie der Verstorbene wohl gelebt, welche Kleider er getragen, was er gegessen … und wen er geliebt haben mochte.
Sean trug sie zu einem Sarkophag, der in der Mitte des Saals auf dem Boden stand. Das aus Kalkstein gefertigte und mit zahlreichen Ornamenten verzierte Kunstwerk, in dessen Inneren früher der Sarg eines Pharao aufbewahrt worden war, war zum Schutz von durchsichtigen Plastikwänden umgeben. Glücklicherweise war es für einen Vampir ein Leichtes, diese Barriere zu überwinden.
Während Haskell Rue hielt, sprangen Sean und Karl mit einem Satz über die Plastikwand. Obwohl der Deckel des Sarkophags bestimmt einige Hundert Kilogramm wog, gelang es den beiden, ihn ohne Schwierigkeiten ein Stück zur Seite zu schieben.
Vorsichtig hob Haskell Rue über die Plastikwand. Karl nahm sie entgegen und hielt sie, während Sean in den tiefen, steinernen Sarkophag kletterte. Danach reichte Karl ihm Rue, und Sean legte sie auf den Boden. Der Sarkophag war groß genug, dass Rue mit ausgestreckten Beinen auf dem Rücken liegen konnte. Als sie nun zu Sean aufsah, kam es ihr vor, als würde er Hunderte von Metern über ihr schweben. Dann legte er sich neben sie, und genau in diesem Augenblick ließ das Gefühl der Betäubung nach.
Oh Gott, nein. Bitte nicht
R. ue spürte, wie der Schmerz in ihr zu wüten begann. Als sie zu schreien begann, schob Karl den Deckel des Sarkophags zu, und plötzlich war alles um sie herum in völlige Dunkelheit getaucht.
“Rue”, sagte Sean eindringlich.
Ihre Schmerzen waren so stark, dass sie ihn kaum verstand.
“Rue, möchtest du, dass ich deine Qualen aufhören lasse?”
Sie konnte nur mit einem kurzen Wimmern reagieren. Ihre Finger krallten sich in seinen Arm. Der Sarkophag war eigentlich zu schmal für sie beide, und Rue spürte, dass Sean sich neben ihr nicht
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